Ich, der Profi

Eine Woche nur Radfahren. Wie ein Profi halt. Der ich ja auch eigentlich geworden wäre, wäre mein Talent nur nicht all die Jahre übersehen worden.

Und deshalb ist es auch nicht etwa albern, dass ich meine Profi-Nahrung auf dem Hotelzimmertisch nach ihrem Verwendungszeitpunkt anordne. Das hypotonische Getränkepulver ganz links, die langkettigen Kohlenhydrat-Riegel griffbereit daneben, und den logischen Abschluss bildet die Tüte mit dem eigentlich viel zu teuren Recovery-Shake-Pulver. Aber billiges Recovery-Shake-Pulver ist etwas für Amateure.

Wenn ich am Nachmittag zurück bin von der Trainingsrunde und den Recovery-Shake getrunken habe, lege ich mich profi-mäßig aufs Bett. Ich gucke dann die Rosenheim-Cops. Das ist nicht etwa stumpfsinnig, sondern Regeneration. Darauf muss man achten während eines Trainingslagers, dass man sich genug ausruht – auch gedanklich.

Am Abend geht es dann mit dem Motto-T-Shirt runter in den Essenssaal. Damit auch alle wissen, dass sie es mit einem Profi zu tun haben. „Ride, Eat, Sleep – Repeat“. Fahren, essen, schlafen – und wieder von vorn.

Manch einer mag diese Konzentration auf das vegetative Nervensystem für eine egomanische Störung halten, wenn nicht gar für eine Weltenflucht. Aber mitunter bin ich ja auch schon vor den Rosenheim-Cops zurück. Da läuft dann „Bares für Rares“. Und das ist ja nun wirklich knallharte Realität.

Die Rückkehr in den amateurhaften Alltag wird natürlich hart. Arbeiten für Geld – statt für Ruhm. Und vor allem – während der Rosenheim-Cops:

Genullt

Viele Menschen freuen sich auf das neue Jahr. Rennradfahrer eher nicht. Denn sie müssen dann wieder von vorne anfangen. Von ganz vorne. Null Höhenmeter, null Kilometer, null Stunden. So steht es mit dem Silvesterknall bei Strava. Alles Ertretene und Erfluchte der zurückliegenden zwölf Monate – weggenullt.

Auf der anderen Seite: Ohne ein Ende würde unser Kilometerberg immer weiter anwachsen und irgendwann an den Mond anstoßen, ohne dass wir das merkten. Deshalb hat es doch sein Gutes, dass das Radsportjahr vergeht. Nur so können wir uns im nächsten übertreffen. Und sei es, indem wir zumindest mehr Kudos bekommen als das Jahr zuvor.

Und am 1.1. können wir auch noch glauben, diesmal mit unserem unbekannten Strava-Freund Kai mitzuhalten, der offensichtlich weder arbeitet noch schläft und deshalb schon im Mai die 10.000 Kilometer voll hat. Der Jahresanfang ist auch eine Illusion.

Also fangen wir wieder von vorne an. Beziehungsweise: von unten. Wie Sisyphos. Vielleicht wäre der verdammte Felshochroller eine weniger tragische Figur, hätte es damals in Griechenland schon Strava gegeben. Dann hätte Sisyphos zumindest gewusst, wie häufig er den Stein schon hochgestemmt hat und wie viele Höhenmeter dabei zusammengekommen sind. Das im Kopf auszurechnen, ist doch recht mühsam. Muss Sisyphos den Brocken doch auf ewig hochhieven.

Wir könnten hingegen damit aufhören. Unser Höher und Immer-weiter ist keine Gottesstrafe, sondern selbstgewähltes Schicksal. Aber wir hören nicht auf. Sondern lassen uns von kalifornischen Hipster-Kapitalisten zur Null degradieren. Auch das ist der Jahresanfang: eine unbequeme Selbst-Befragung. Wozu das Ganze?

Vielleicht ja, um dem stets Wiederkehrenden einen sagenhaften Sinn zu geben. Bei Strava nennen sich mehrere Fahrer Sisyphus. Manche mit Vornamen, andere mit Nachnamen. „Happy Sisyphus“ heißt der aus Malaysia. Ein anderer kommt aus Fronhausen. Den Ort gibt es wirklich. Der liegt bei Marburg.

Fronhausen. Ich glaube, da könnte man auch prima Silvester feiern.

Gratulation der Geschlechter

 

Diesmal ist alles anders bei der Tour de France – und das nicht nur wegen Corona. Die Etappensieger werden zwar weiterhin von zwei Hostessen eingerahmt, aber nur eine ist weiblich – und die andere, genau: männlich. Der Tour-Veranstalter versteht seine geschlechts-paritätische Neuerung als Zeichen gegen Sexismus. Ich sehe hingegen lauter Gefahren bei der Umsetzung.

Wobei ich nicht sicher bin, ob die Ausgestaltung von Siegerehrungen das dringlichste Problem des hochriskanten Radsports ist. Zumal gerade mal 38.000 Unterschriften zusammengekommen sind für die Abschaffung der Podiums-Hostessen. Die Petition für das Verbot von Berliner Pferdekutschen brachte es auf über 80.000.

Womit ich die Tour-de-France-Damen nicht mit Ackergäulen vergleichen will. Schon weil die viel schmaler sind als die Gäule. Allerdings auch kleiner. Denn die Rennradfahrer sind meist von niedrigem Wuchs, da sollen die Ehren-Damen die Sieger nicht überragen.

Und sicherlich auch nicht die Ehren-Herren. Aber so viele kleinwüchsige Models gibt es nicht, die zudem nicht breitschultrig sein dürfen. Sonst stehen die Fahrer immer in deren Schatten, und dann kommen die sich irgendwann derart mickrig vor, dass sie am Ende gar nicht mehr gewinnen wollen. Und dann kann man die Tour de France abschaffen.

Fürs erste könnte man sich behelfen, indem man das Siegerpodest höher baut, so ein Meter 50 hoch. Dann guckt auch der kleinste Sieger über die Hostessen hinweg, egal welchen Geschlechts die sind. Da müsste man dann allerdings eine Leiter neben das Podest stellen, damit die Fahrer da auch draufkommen. Die Frage, welche von beiden Hostessen den Sieger küssen darf, kann man dann immer noch klären, wenn der Impfstoff da ist.

Müssen jetzt nur noch die Boxer nachziehen und ihre Nummern-Girls durch Boys ersetzen. Eine gute Gelegenheit böte sich beim Comeback-Kampf von Mike Tyson, Ende November in Las Vegas. Das wäre spannend zu beobachten, wie der Ohrbeißer – und mit ihm die sicherlich wieder zahlreich im Publikum vertretenen Zuhälter – reagieren, wenn Männer glitzernde Schilder mit Zahlen hochhalten und Stöckelschuhe an den Füßen haben.

Ja, man muss manchmal auch was wagen für die Gleichberechtigung.

Am Bier lutschen

 

Corona ist zwar noch nicht wieder nur ein mexikanisches Bier, das kaum jemand trinkt, aber Radrennen sind schon wieder erlaubt, inklusive Windschatten. Was eigentlich schade ist. Ich hätte die Tour de France gerne mal als dreieinhalbtausend Kilometer langes Einzelzeitfahren gesehen. So viele Fahrer, so hübsch aufgereiht, das hätte was Hypnotisches.

Stattdessen klumpen jetzt wieder alle zusammen und „lutschen“ aneinander rum. Eine Verhaltensweise, die ich schon vor Corona ziemlich unappetitlich fand. Kommen die Flüssigkeiten, die der Vordermann nach hinten zum Lutscher wirft, doch aus Untiefen seines Körperinneren, in die man lieber nicht vorstoßen möchte. Und jetzt ist der Rotz auch noch ansteckend!

Möglicherweise. Es kommt wohl auf die Menge an. Das ist beim Gift schließlich genauso. In kleinen Dosen wirkt Strychnin keinesfalls tödlich, sondern ziemlich anregend. Weshalb Rennradfahrer seinerzeit gerne Strychnin zu sich genommen haben. Mir ist allerdings niemand bekannt, der freiwillig Corona nimmt. Was daran liegen könnte, dass Corona sehr gut nachweisbar ist.

Im antiken Rom haben die Athleten übrigens gerne Stierhoden verzehrt. Wegen der Hormone darin. Dabei gab es damals noch gar keine Fahrräder. Was mich zu der Frage bringt: Stehen Stierhoden überhaupt auf der Dopingliste? Vielleicht gelten Hoden in pürierter Form inzwischen als Bio-Anabolika und werden im Reformhaus als Viagra-Alternative angeboten. Da müsste man sich mal informieren.

Vor allem aber wüsste ich mal gerne, ob auf den Corona-Kugeln tatsächlich diese roten Propfen sitzen? Da habe ich den Herrn Drosten nie etwas zu sagen hören. Dafür hat er in seinem Podcast mal erzählt, dass er immer mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Was mich dann doch wieder beruhigt hat. Solange der Kanzlerin-Virologe Rad fährt, solange werde auch ich Rad fahren dürfen. War meine Überlegung. Also habe ich dieses absurd teure Spinningrad nicht gekauft. Welch ein Glück, damals im April.

Im Februar war ich noch auf Mallorca. Sieben Tage Sonne und die letzten beiden sogar in kurzer Hose. Wunderbar! Nur leider kann ich das niemanden erzählen. Das erzeugt nur Neid. Vor allem bei den Kollegen, die im März noch auf die Insel sind und dann nicht raus durften aus dem Hotel.

Und jetzt ist der Sommer schon bald vorbei und Corona noch immer da. Logisch, so ein Virus hat schließlich keinen Urlaub. Wahrscheinlich kriegen Viren nicht einmal Tariflohn. Und ob die sich sonderlich für die Tour de France interessieren, wage ich auch mal zu bezweifeln.

Vielleicht überlegt es sich Christian Prudhomme ja noch einmal und macht doch ein Einzelzeitfahren daraus. Das wäre mal was anderes. Auch für den Tour-Direktor, der jedem Lutscher zur Strafe einen Sack Kartoffeln auf den Gepäckträger klemmen könnte. Den müssten die Fahrer natürlich am Rad montiert haben, den Gepäckträger. Aber das kriegt man schon hin.

Und bei Wiederholungstätern setzt sich Eddy Merckx hinten drauf.

 

Kudos

Ronny ist immer der Erste. Egal, ob ich morgens fahre, am Mittag, oder im Dunkeln auf der Rolle,- Ronny hält den Daumen hoch. „Bling“, sagt dann mein Handy.

Manchmal applaudiert mir Ronny, da habe ich die Radschuhe noch an. Allerdings ziehe ich die Schuhe auch nicht sofort aus. Sondern erst, nachdem ich meine Runde bei Strava hochgeladen habe. Damit Ronny Bescheid weiß – und die anderen. „Bling“.

Vielleicht hat Ronny ja eine App, die Kudos automatisch versendet. Möglicherweise hat er aber auch einen Super-Job, bei dem er immer gucken kann, wo seine Strava-Freunde gerade so rumkurven. Bling. Bling. Bling. Bling.

Manchmal lässt Ronny auf sich warten. Dann mache ich mir Sorgen. Ist er krank? Was bedauerlich wäre. Aber schlimmer fände ich, er würde meine erbrachte Leistung nicht für lobenswert halten. Okay, es waren nur 43 Kilometer. Aber die habe ich zwischen Edeka und der Spätschicht abgerissen. Das war echt stressig. Aber ich kann ja schlecht schreiben: „Schnell noch zwischen Großeinkauf und Schicht reingepresst“? Da könnten die Leute glauben, ich würde um ihre Kudos betteln. Also schreibe ich: „Noch schnell vor der Schicht“. Das ist dezenter.

Natürlich freue ich mich, wenn es auch mal über den bloßen Daumen hinausgeht und die Respektsbekundung etwas ausgeführt wird. Dafür ist die Kommentar-Funktion schließlich da. Es muss ja nicht in Lobhudelei ausarten. Ein einfaches „saustark“ reicht. Wobei, wenn jemand aufgefallen sein sollte, dass ich so früh in der Saison schon verdammt gut in Form bin, kann er das natürlich feststellen.

Oder sie. Silvia, Claudi, Anne, Grit. Ich lass mir gerne von Frauen Komplimente machen. Was soll daran komisch sein? Komischer wäre es, sich von einem Kerl beglückwünschen zu lassen, der sich „Ulle007“ nennt, und auf dessen Daumen sich auch noch etwas einzubilden.

Das verstehe ich eh nicht, warum sich die Leute bei Strava Tarnnamen geben. Die sehen doch eh alle gleich aus, mit ihren Helmen und Sonnenbrillen. Wie mutierte Fliegen aus einem Science-Fiction-Film, der es zu Recht nicht in die Kinos geschafft hat. Bling.

Nicht, dass ich den ganzen Tag auf den Belobigungston warten würde. Das wäre ja absurd. Aber auf den ersten schon. Danke, Ronny.

Sechstagerennen

Bei Karstadt ist wieder Sechstagerennen. Am Freitag kostet der Rollkoffer nur 39,99. Da muss man sich beeilen. Aber darum geht’s ja beim Sechstagerennen.

Schuhe gibt’s auch billiger. Und Hosen. Und Uhren. Und Bettwäsche. Und Seifenspender. Und Waschmaschinen. Und Geschirrspüler. Und Bügeleisen. Und Bratpfannen. Und Salami. Im Prinzip dreht Karstadt sechs Tage lang am Rad. Am Sonntag ist die Halle allerdings zu.

Nun ist das nicht verwunderlich, dass ein Kaufhaus Werbung mit dem Sechstagerennen macht, ist es bei dieser Veranstaltung doch schon immer um Kohle gegangen. Die Fahrer wären auch schon blöd gewesen, für lau in die Pedale zu treten, bei dem ganzen Zigarrenqualm. Mittlerweile ist das Rauchen ja verboten. Und wilde Schlägereien habe ich bei Karstadt auch schon länger keine mehr gesehen.

Man mag das für ein schlechtes Omen halten, dass ein potenzielles Pleite-Unternehmen das Sechstagerennen auf seine Fahnen schreibt. Auf der anderen Seite: Karstadt gibt es noch; die Sixdays in Dortmund, Köln, München und Frankfurt schon lange nicht mehr.

Ernest Hemingway saß gerne beim Sechstagerennen in Paris rum. Und Edward Hopper hat sogar mal ein Bild gemalt. „French Six-day Bicycle Rider“ heißt das aus gutem Grund unbekannte Werk. Der Fahrer, der da in seiner Koje hockt, sieht aus wie ausgestopft. Vermutlich hatte Edward Hopper keine Ahnung von dem Sport. Genauso wenig wie Karstadt.

Wobei das schon etwas Kompetitives haben kann, einen Kaffeevollautomaten für die Hälfte abzugreifen. Aber vermutlich geht es mehr um eine Idee als um den Wettbewerb. Bei Karstadt wie im Velodrom. Wohin sonst kann man sechs Tage lang latschen, ohne als gestörter Wiederholungstäter zu gelten?

Okay, die Venus wäre eine Alternative. Aber die Sex-Messe hat nur vier Tage auf. Kein Vergleich!

Kein schöner Sport

Manche Wahrheiten tun weh. Erst recht, wenn man sie ausspricht: Der Radsport ist kein schöner Sport. Wie man in die Pedale tritt und welche Figur man dabei macht, ist ästhetisch gesehen vollkommen egal. Hauptsache, man fährt schnell.

In anderen Sportarten ist das anders. Da ist Schönheit unerlässlich für den Erfolg. Ein Diskuswerfer wirft den Diskus nur dann weit, wenn er ihn auch schön wirft. Schmeißt er ihn einfach weg, oder versucht er es mit Gewalt, stürzt die Scheibe ab. Dann ruckelt das Ufo in der Luft oder wackelt oder steht Kopf. Auch der Diskus muss anmutig sein, um es weit zu bringen.

Wie der Diskuswerfer, dieses kreiselnde Katapult, das sich in einer gewaltigen Bewegung entlädt, um am Ende, wenn die Scheibe schon auf der Reise ist, den Wurfarm leger ausschwingen zu lassen, so als sei das gar kein Arm, sondern der Flügel eines sehr kräftigen Greifvogels. Auch das gehört zum weiten Wurf: das Luftige, Federige, eben: Schöne.

Und Mario Götze hätte Deutschland ohne Eleganz nicht zum Weltmeister geschossen. Als der Ball im Maracana-Stadion auf ihn zuflog, war Götze zur Grazie verdammt. Einen anderen als einen eleganten Weg gab es nicht, den Ball ins argentinische Tor zu bringen. Denn der Ball kam ein Stück zu hoch angeflogen, weshalb Götze nach oben springen musste, um den Ball dort in der Luft anzunehmen. Aber er nahm ihn nicht nur an, er legte ihn sich mit der Brust gleich vor. Diesen entscheidenden halben Meter nach halbrechts, so dass er in der Zeit, in der der Ball dorthin tropfte, seinen Körper verdrehen und den linken Fuß derart anwinkeln konnte, dass er den Ball, wieder unten angekommen, mit Vollspann treffen konnte. Sein sich verwindender Körper brachte zusätzlich Kraft auf den Fuß, wodurch der Ball unerreichbar wurde für den argentinischen Torwart. Ohne diese komplexe Formvollendung, die keine zwei Sekunden dauerte, wäre Deutschland nicht Weltmeister geworden.

Und im Radsport gewinnt Christopher Froome viermal die Tour de France. Ein Mann, der wie ein Reiher auf dem Rad sitzt. Wie ein großer, bleicher Reiher. Froome kann sich das Ungelenke, wie falsch Verschraubte leisten, denn würde er elegant und weniger hässlich auf dem Rad sitzen, wäre er nicht schneller. Schönheit und Grazie sind im Radsport keine Parameter, sondern überflüssig. Deshalb zieht Daniel Martin seinen Kopf auch immer so komisch hoch zwischen die gereckten Schultern, als sei er eine Schildkröte ohne Panzer. Weil es egal ist.

Ja, es gibt auch die stilvollen Fahrer. Die über den Rahmen gespannt sind, als sei dies ihre Bestimmung: in einem Gleichmaß dahin zu kurbeln, dass man glauben könnte, es strenge sie gar nicht an. Das ist schön anzuschauen. Aber fährt einer den Berg hässlich schneller hoch, als es der Stilist elegant tut, ist der Stilist seinen Platz im Team los.

Im Radsport gibt es keine B-Note. Es gibt nur die Bio-Physik. Laktatwert, getretene Watt pro Kilogramm, maximale Sauerstoffaufnahme. Der Radsport ist eine simple Rechnung – und ein simpler Sport.

Primoz Roglic begann seine Radsport-Karriere mit 21. Vorher war er Skispringer. Wahrscheinlich fragt sich der Mann jeden Tag aufs Neue, warum er mit so viel weniger Körperbeherrschung so viel mehr Geld verdient. Man stelle sich das andersrum vor: ein 21-Jähriger beginnt mit dem Skispringen. Oder mit dem Fußball. Oder dem Diskuswerfen, dem Schwimmen, dem Skifahren, dem Turnen, dem Fechten. Oder, oder, oder. Er würde immer ein Anfänger bleiben. Primoz Roglic hat am Sonntag die Spanienrundfahrt gewonnen.

Womit wir bei der Gretchenfrage wären: Wie gehen wir mit dieser unschönen Wahrheit um, dass wir eine Sportart mögen und betreiben, die man nicht erlernen muss, für die man weder ein besonderes Körpergefühl benötigt noch das geringste Verständnis von Ästhetik? – Nun, vielleicht sollten wir das alles besser für uns behalten.

ABREISSEN! LASSEN!! MÜSSEN!!!

Ich bin noch nie geklettert. Aber ich weiß trotzdem, wie sich Bergsteiger fühlen, kurz bevor sie in den Tod stürzen. Auf dem Rad erlebt man das viele Male: die Schwerkraft, die eigene Kraft, die schwindet, die Ohnmacht. Wenn alles festkrallen und hoffen und beten nichts hilft. Und sich der Griff um die Steinkante löst. Fast ein wenig verwundert schaut der Todgeweihte auf seine Hand. Warum will sie ihn nicht mehr halten? Er hat der Hand doch nichts getan.

Wie der Radfahrer seinem Bein. Dem hat er auch nichts getan. Das Bein ist die Hand des Radfahrers. Es hält ihn am Leben. Aber bald nicht mehr. Denn es brennt wie ein Busch. Und das andere Bein wie zwei. Gleich bekommt er einen Krampf. Und selbst wenn nicht, wird er das Tempo nicht mehr mitgehen können. Trotz Windschatten! Wie peinlich.

Gibt es beim Bergsteigen eigentlich auch Windschatten? Ein wirrer Gedanke kurz vor der Selbsttaufgabe. Und dann ist es vorbei. Er fällt zurück. Er hat abreißen lassen müssen. Er ist ein geschlagener Mann. Und so stürzt er in die Tiefe. Wie ein Bergsteiger.

Dass der Rennradfahrer danach weiterlebt, macht die Sache nur komplizierter. Denn so kann er sich einreden, gar kein geschlagener Mann zu sein. Sind ja nur zehn Meter, die er hinter den anderen herfährt. Und als es 20 sind, irrglaubt der Gestürzte noch immer, den Rückstand wieder aufholen zu können. Es ist ein jämmerlicher Kampf gegen das Geschlagensein. Aber irgendwann ist auch der vorbei.

Der Fatalist fährt dann einfach weiter. So als sei nichts geschehen. Das ist sein Schutzmechanismus: auf Maschine machen. Hauptsache, er rattert noch irgendwie. Die Gruppe sieht er jetzt selbst auf der langen Gerade nicht mehr. Dem Fatalisten ist es egal. Er hat seine Ehre und seine Scham rausgetreten. Als er dranbleiben wollte – und es nicht schaffte. Jetzt ist er nur noch eine willenlose Rennradfahrer-Puppe, die ungläubig runter auf die Beine schaut. Warum gehen die immer auf und ab? Die Puppe weiß es nicht.

Blöder Fatalist, denkt der Schönredner, der die Niederlage nicht hinnimmt. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil er ein gestörtes Verhältnis zum Schicksal hat. Hätte er ein besseres, wüsste der Schönredner, dass es Vorbestimmung ist, den Anderen hinterher zu gucken und zu fahren. Würde es in seiner Macht liegen, träte er schließlich mit den Jungs da vorne noch um die Wette. Aber er kann nicht schneller fahren. Das ist Bio-Physik. Eigentlich ganz einfach zu kapieren. Aber der Schönredner will Gesetzmäßigkeiten nicht wahrhaben.

Es muss an der Erkältung liegen, die er wohl nicht richtig auskuriert hat. Oder an dem scheiß harten Bett in dem total beschissenen Hotel. Und hätte er nur richtig trainieren können und nicht die zwei Tage aussetzen müssen, na, aber dann. Redet sich der Schönredner seine abgerissene Lage schön. Und im Ziel rollt er gleich durch zu denen, die ihm weggefahren sind und erklärt ihnen ungefragt, woran es gelegen hat und dass sie ihn beim nächsten Mal nicht abhängen. Garantiert nicht.

Der Selbstzweifler will keine Revanche. Der Selbstzweifler will aufhören. Am besten gleich mit diesem ganzen Radsport. Das wollte er schon so manches Mal. Aber diesmal ganz bestimmt. Was für ein Blödsinn! Als erwachsener Mann und Familienvater so zu tun, als sei er ein Profi. Oder hätte doch zumindest einer werden können. Wenn sein Talent nur früher erkannt worden wäre. Aber es ist keiner vorbeigekommen. Kein Trainer, kein Entdecker, kein Manager. Hat er sich das alles tatsächlich jahrelang eingeredet? Damit muss Schluss sein.

Wie ein geprügelter, zweibeiniger Köter rollt der Selbstzweifler ins Ziel. Am liebsten würde er sein Rad jetzt demonstrativ hinschmeißen. Damit auch alle sehen, dass er es ernst meint. Dass es vorbei ist. Aber sein Rad hat dreieinhalbtausend Tausend Euro gekostet. Und nachher bricht noch das Schaltwerk ab. Also schmeißt er das Rad nicht hin.

Vielleicht bekommt er noch anderthalb Tausend dafür. Aber dann hätte er 2.000 Euro Verlust gemacht. Das ist eindeutig ein Minusgeschäft. Da kann er eigentlich auch weiterfahren. Denkt der Selbstzweifler, der jetzt schon nicht mehr ganz so verzweifelt ist. Schließlich waren die in der Gruppe alle jünger als er, ist er sich sicher. Und verrechnet man das Alter mit der getretenen Wattleistung sind die anderen ihm gar nicht weggefahren. Sondern er ihnen.

Und so muss auch der Selbstzweifler keine Todesanzeige aufgeben. „Er musste abreißen lassen“, das ist eigentlich eine schöne Grabinschrift. Auch für Menschen, die noch nie auf einem Rad saßen.

Asphalt und Natur

Rennradfahrer begreifen ihren Sport gerne als Naturerlebnis. Wenn sie in den Bergen auf himmelstürmende Gipfel blicken und die grüne Menschenleere durch das entfernte Läuten einer Kuhglocke untermalt wird,- dann denkt der Rennradfahrer: Herrlich! Manchmal hält er dann sogar an und genießt die eigene Entrücktheit.

Dabei vergisst der Rennradfahrer, dass die Kuh nur deshalb dort oben bimmelt, weil sie ein Mensch hochgetrieben hat. Und meistens vergisst der Rennradfahrer auch, dass er in den Bergen gar nicht rumfahren könnte, würde es sich tatsächlich um Natur handeln. Denn in der Natur wachsen keine Straßen. Erst recht keine aus Asphalt.

Rennradfahrer können sich der Natur nur deshalb nahe fühlen, weil der zuvor der Wesenskern ausgetrieben wurde: das Zuwuchernde, Versperrende, Bedrohliche. Darüber ist der Rennradfahrer in aller Regel froh, dass es all dies nicht mehr gibt und er sich weder durch Geäst schlagen muss noch über Geröll rumpeln. Viele Rennradfahrer sind schon schlecht gelaunt, wenn der Asphalt mal etwas körniger ist.

Widersprüche? Nein, Widersprüche erkennt der Rennradfahrer da keine. Er muss sich schließlich auf die nächste Kehre konzentrieren. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da wollte kein Mensch in die Berge. Weil es dort oben viel zu kalt war. Und Kartoffeln wären auf den Steinhängen auch keine gewachsen. Deshalb guckten die Menschen früher hoch zu den Gipfeln – und beließen es dabei.

Heute gucken GPS-Satelliten runter auf die Berge und zählen für die Rennradfahrer die Höhenmeter. Denn was ist ein Naturerlebnis wert, wenn man es nicht bei Strava hochladen kann? Wahrscheinlich wenig.

 

Eugen

Eugen heißt gar nicht Eugen. Ich nenne ihn nur so. Für den Fall, dass er seinen richtigen Namen hier nicht lesen möchte. Was ich verstehen würde.

Eugen macht nichts Illegales. Er fährt nur Rad. Allerdings macht Eugen sonst nichts weiter. Oder zumindest sehr wenig. Andernfalls käme er kaum auf seine 26.000 Jahreskilometer. Das ist ein beachtlicher Wert. Zumal, wenn man weiß, dass Eugen Ende 50 und seine Trainingsrunde 21 Kilometer lang ist. Kronprinzessinnenweg, Havelchaussee, Postfenn, Heerstraße, Königsweg.

Eugen könnte den Schlenker nach Schwanenwerder dranhängen oder zur Abwechselung mal runter fahren zum Wannsee. Aber das tut er nicht. Eugen fährt immer die gleiche Runde. Immer rechts rum. Er scheint Abwechselungen nicht zu mögen. Kronprinzessinnenweg, Havelchaussee, Postfenn, Heerstraße, Königsweg. Das sind ziemlich genau 21 Kilometer.

Mit Eugen über etwas anderes zu reden als über Kettenblätter oder das Wetter, ist schwierig. Deshalb habe ich die Kommunikation und die gemeinsamen Runden mit ihm eingestellt. Aber wir grüßen uns noch.

Ein früherer Mitfahrer will wissen, dass Eugen seit bald 40 Jahren seine Runde dreht und Hausmeister ist. Aber nur Teilzeit. Logisch. Sonst würde das mit den 26.000 Kilometern nicht klappen.

Zieht man von den 26.000 Kilometern 5.000 für An- und Abfahrt ab, bleiben 21.000 übrig. Geteilt durch 21 Kilometer macht das: tausend Runden. Tausend Mal im Kreis.

Möglicherweise ist uns Eugen allen voraus und er praktiziert eine Art rechtsdrehenden Zen-Buddhismus. Vielleicht ist Eugen aber auch auf irgendeiner Rille hängen geblieben. Damals in den 80ern. Da gab es ja noch Schallplatten.

 

Grüßen – oder nicht grüßen

Es gibt Radfahrerkollegen, die heben grundsätzlich die Hand, wenn ihnen jemand entgegenkommt. Andere grüßen dagegen aus Prinzip nicht. Selbst die nicht, die sie seit Jahren überholen. Ich finde beide Verhaltensweisen bedenklich.

Die Dauergrüßer sind mir tendenziell zu menschenfreundlich. Schließlich wissen wir alle, was für Arschlöcher so unterwegs sind. Da sollte man sich eine gesunde Grundskepsis bewahren, meine ich. Zumal unterscheidungslose Freundlichkeit die Sache im Zweifel nur verschlimmert. Denn grüßt man alle entgegenkommenden Rennradfahrer, könnten sich die nicht beachteten Mountainbiker diskriminiert fühlen. Und die Wochenendausflügler. Und die Täuscher auf den E-Bikes. Will man die alle grüßen? Ich nicht.

Auf der anderen Seite ist der Misanthrop eher von einsamer Natur – auch der auf dem Rad. Nicht ohne Grund dreht der Nicht-Grüßer meist allein seine Runden. Weil auch ihn keiner grüßen will, geschweige denn mit ihm mitfahren. Und immer allein ist doof.

Man könnte so tun als ob. Ein angetäuschter Gruß gewissermaßen. Ein leichtes Nicken, das aber auch ein nervöses Zucken sein könnte. Da hätte man guten Willen bewiesen, könnte sich aber noch auf das Feld des Missverständnisses zurückziehen, sollte sich der Zugenickte als Widerling erweisen.

Oder man wartet den Gruß der Gegenseite ab, um diesen dann – in gebotener Zurückhaltung – zu erwidern. Allerdings erwartet die Gegenseite häufig ebenfalls ein Zeichen der Kontaktbereitschaft. Und dann gucken sich beide an wie bei „Zwölf Uhr mittags“. Mit dem Unterschied, dass bei den Radfahrern nicht der gewinnt, der zuerst zieht.

Ein weiterer Unterschied: im Wilden Westen liegt nach dem Duell einer tot im Staub. Die Rennradfahrer bleiben dagegen beide im Sattel. Nicht, dass ich das bedauern würde. Aber so ein bisschen mehr finale Entscheidung hätte auch was für sich. Denn so ist das doch irgendwie unbefriedigend, wenn beide einfach weiterfahren – und keiner weiß, wer nun das Arschloch ist.

Der unsichtbare Feind

Ich hasse Wind. Selbst wenn er mich antreibt. Denn ich weiß, das ist ein kurzes Vergnügen. Irgendwann muss ich retour. Und dann treibt mich der Wind nicht mehr an.

Wenn ich nach Süden rausfahre, steht da ein Windrad. Da schaue ich voller Furcht hinauf: Wie schnell dreht sich der Flügel? Wie groß wird die Pein heute sein?

Einmal habe ich versucht, nicht hinzuschauen. Weil der Wind sowieso der stärkere ist, habe ich mir halb-buddhistisch einzureden versucht. Ein Holländer hatte mir mal geraten, den Wind als seinen Freund zu begreifen. Dann rolle es sich gleich viel leichter, meinte er. Ich habe es nicht geschafft. Ich musste hinschauen, und es war wieder eine einzige Strafe.

Was mich zermürbt, ist das Unsichtbare. Wenn ich einen Berg hochfahre, weiß ich, warum ich langsamer werde. Ich sehe die Steigung. Den Wind sehe ich nicht. Er ist der unsichtbare Feind. Denn glaubt man, er kommt von links, dreht er unversehens auf rechts. Und bläst er doch mal konstant von nord-nord-ost, ist das auch kein Trost. Denn man sieht es schon von weitem: am Ende des Maisfeldes schlägt die Straße einen Haken – und dann hat man ihn im Gesicht, den Wind.

Ich habe gegoogelt, aber es gibt keine Selbsthilfegruppe für Gegenwind-Oper. Ich sollte eine gründen.