Manche Wahrheiten tun weh. Erst recht, wenn man sie ausspricht: Der Radsport ist kein schöner Sport. Wie man in die Pedale tritt und welche Figur man dabei macht, ist ästhetisch gesehen vollkommen egal. Hauptsache, man fährt schnell.
In anderen Sportarten ist das anders. Da ist Schönheit unerlässlich für den Erfolg. Ein Diskuswerfer wirft den Diskus nur dann weit, wenn er ihn auch schön wirft. Schmeißt er ihn einfach weg, oder versucht er es mit Gewalt, stürzt die Scheibe ab. Dann ruckelt das Ufo in der Luft oder wackelt oder steht Kopf. Auch der Diskus muss anmutig sein, um es weit zu bringen.
Wie der Diskuswerfer, dieses kreiselnde Katapult, das sich in einer gewaltigen Bewegung entlädt, um am Ende, wenn die Scheibe schon auf der Reise ist, den Wurfarm leger ausschwingen zu lassen, so als sei das gar kein Arm, sondern der Flügel eines sehr kräftigen Greifvogels. Auch das gehört zum weiten Wurf: das Luftige, Federige, eben: Schöne.
Und Mario Götze hätte Deutschland ohne Eleganz nicht zum Weltmeister geschossen. Als der Ball im Maracana-Stadion auf ihn zuflog, war Götze zur Grazie verdammt. Einen anderen als einen eleganten Weg gab es nicht, den Ball ins argentinische Tor zu bringen. Denn der Ball kam ein Stück zu hoch angeflogen, weshalb Götze nach oben springen musste, um den Ball dort in der Luft anzunehmen. Aber er nahm ihn nicht nur an, er legte ihn sich mit der Brust gleich vor. Diesen entscheidenden halben Meter nach halbrechts, so dass er in der Zeit, in der der Ball dorthin tropfte, seinen Körper verdrehen und den linken Fuß derart anwinkeln konnte, dass er den Ball, wieder unten angekommen, mit Vollspann treffen konnte. Sein sich verwindender Körper brachte zusätzlich Kraft auf den Fuß, wodurch der Ball unerreichbar wurde für den argentinischen Torwart. Ohne diese komplexe Formvollendung, die keine zwei Sekunden dauerte, wäre Deutschland nicht Weltmeister geworden.
Und im Radsport gewinnt Christopher Froome viermal die Tour de France. Ein Mann, der wie ein Reiher auf dem Rad sitzt. Wie ein großer, bleicher Reiher. Froome kann sich das Ungelenke, wie falsch Verschraubte leisten, denn würde er elegant und weniger hässlich auf dem Rad sitzen, wäre er nicht schneller. Schönheit und Grazie sind im Radsport keine Parameter, sondern überflüssig. Deshalb zieht Daniel Martin seinen Kopf auch immer so komisch hoch zwischen die gereckten Schultern, als sei er eine Schildkröte ohne Panzer. Weil es egal ist.
Ja, es gibt auch die stilvollen Fahrer. Die über den Rahmen gespannt sind, als sei dies ihre Bestimmung: in einem Gleichmaß dahin zu kurbeln, dass man glauben könnte, es strenge sie gar nicht an. Das ist schön anzuschauen. Aber fährt einer den Berg hässlich schneller hoch, als es der Stilist elegant tut, ist der Stilist seinen Platz im Team los.
Im Radsport gibt es keine B-Note. Es gibt nur die Bio-Physik. Laktatwert, getretene Watt pro Kilogramm, maximale Sauerstoffaufnahme. Der Radsport ist eine simple Rechnung – und ein simpler Sport.
Primoz Roglic begann seine Radsport-Karriere mit 21. Vorher war er Skispringer. Wahrscheinlich fragt sich der Mann jeden Tag aufs Neue, warum er mit so viel weniger Körperbeherrschung so viel mehr Geld verdient. Man stelle sich das andersrum vor: ein 21-Jähriger beginnt mit dem Skispringen. Oder mit dem Fußball. Oder dem Diskuswerfen, dem Schwimmen, dem Skifahren, dem Turnen, dem Fechten. Oder, oder, oder. Er würde immer ein Anfänger bleiben. Primoz Roglic hat am Sonntag die Spanienrundfahrt gewonnen.
Womit wir bei der Gretchenfrage wären: Wie gehen wir mit dieser unschönen Wahrheit um, dass wir eine Sportart mögen und betreiben, die man nicht erlernen muss, für die man weder ein besonderes Körpergefühl benötigt noch das geringste Verständnis von Ästhetik? – Nun, vielleicht sollten wir das alles besser für uns behalten.