Vorsätzliche Vorfahrtnahme
Als das Chaos auf der Potsdamer Brücke losbrach und Autofahrer die Baustelle kaperten, indem sie die zahlreichen Verbotsschilder ignorierten, ohne den Verkehr auf der Gegenspur zu berücksichtigen,- als also die Anarchie auf Berlins Straßen gesiegt hatte, da dachte ich nur: Ja, und?
Für mich ist die gezielte Gesetzesuntreue hiesiger Autofahrer Alltag. Denn ich bin Fahrradfahrer. Ja, auch Radfahrer deuten die Straßenverkehrsordnung bisweilen zu ihren Gunsten. Dabei fahren sie fremden Leuten in der Regel aber kein Bein ab. Ich habe zwar noch alle beide dran. Aber dies nur, weil ich weiß, wohin mein Verkehrsgegner steuert, ehe er es selbst weiß.
Diese Fähigkeit, für den anderen mitzufahren, erhöht die Chance auf Unversehrtheit, ist aber keine Garantie dafür. Denn Verhaltensweisen verändern sich. So dachte ich bis vor kurzem noch: Ein Autofahrer, der mir entgegenkommt und mich sieht, der also weder eine SMS schreibt noch gerade bei Whatsapp was nachschaut, der gewährt mir die zustehende Vorfahrt – und biegt erst danach ab. Aber das ist offensichtlich zu viel der Rücksichtnahme und Gesetzestreue. Jedenfalls werde ich regelmäßig von PKW – und gerne auch von LKW-Fahrern – geschnitten, mit einem Blick, der zu fragen scheint: „Alter, was willst du?“. – „Vorfahrt!“, habe ich einmal geantwortet. Woraufhin die Gegenseite vorschlug, ich solle mich gefälligst selbst ficken.
Könnten Verhalten und Vokabular darauf hinweisen, dass nach dem virtuellen auch der öffentliche Raum zunehmend verroht? Oder handelt es sich bei der vorsätzlichen Vorfahrtnahme um eine prophylaktische Rache für die Radspuren, die demnächst auf Berlins Straßen gepinselt werden? Ich halte beides für möglich. Vielleicht ist es aber auch viel einfacher, und die Autorfahrer ziehen deshalb nach links, weil ihr Wagen keine Beine hat, die man ihm abfahren kann.