Keuchen und genießen

Beim Giro delle Dolomiti verausgabt man sich nur bergauf. Runter geht es gemächlich hinterm Führungsfahrzeug her. Wenn man sich an den Rhythmus gewöhnt hat, macht das mächtig Spaß.

 

 

Ich, der Profi

Eine Woche nur Radfahren. Wie ein Profi halt. Der ich ja auch eigentlich geworden wäre, wäre mein Talent nur nicht all die Jahre übersehen worden.

Und deshalb ist es auch nicht etwa albern, dass ich meine Profi-Nahrung auf dem Hotelzimmertisch nach ihrem Verwendungszeitpunkt anordne. Das hypotonische Getränkepulver ganz links, die langkettigen Kohlenhydrat-Riegel griffbereit daneben, und den logischen Abschluss bildet die Tüte mit dem eigentlich viel zu teuren Recovery-Shake-Pulver. Aber billiges Recovery-Shake-Pulver ist etwas für Amateure.

Wenn ich am Nachmittag zurück bin von der Trainingsrunde und den Recovery-Shake getrunken habe, lege ich mich profi-mäßig aufs Bett. Ich gucke dann die Rosenheim-Cops. Das ist nicht etwa stumpfsinnig, sondern Regeneration. Darauf muss man achten während eines Trainingslagers, dass man sich genug ausruht – auch gedanklich.

Am Abend geht es dann mit dem Motto-T-Shirt runter in den Essenssaal. Damit auch alle wissen, dass sie es mit einem Profi zu tun haben. „Ride, Eat, Sleep – Repeat“. Fahren, essen, schlafen – und wieder von vorn.

Manch einer mag diese Konzentration auf das vegetative Nervensystem für eine egomanische Störung halten, wenn nicht gar für eine Weltenflucht. Aber mitunter bin ich ja auch schon vor den Rosenheim-Cops zurück. Da läuft dann „Bares für Rares“. Und das ist ja nun wirklich knallharte Realität.

Die Rückkehr in den amateurhaften Alltag wird natürlich hart. Arbeiten für Geld – statt für Ruhm. Und vor allem – während der Rosenheim-Cops:

Ein Glitzern und Funkeln

Füssen ist bekannt für sein Schloss Neuschwanstein. Aber an der weißen Burg kann man auch vorbeifahren. Das Ostallgäu bietet Rennradfahrern spektakulärere Sehenswürdigkeiten.

Ein Auto auf zwei Rädern

Es gibt Leute, die stellen sich eine Hifi-Anlage für 11.000 Euro in die Bude und hören dann doch nur „Smoke on the Water“. Insofern könnte es moralisch auch vertretbar sein, auf einem sehr teuren Rennrad Trainingsrunden zu drehen, die man üblicherweise mit seinem alten Klepper dreht. Und 11.000 Euro kostet die BMC Teammaschine SLR 01 ja gar nicht. Sondern nur 10.999.

Ja, für das Geld bekommt man auch ein Auto. Wenn auch nur einen Dacia. Der hätte dann aber immerhin Klimaanlage, Tempomat, Einparkhilfe, beheizbare Außenspiegel sowie auf Wunsch die Sonderlackierung Kalahari-Rot. Ach ja, ein Ersatzrad wäre auch noch inklusive. Das fehlt bei der Teammaschine. Würde nochmal anderthalb Tausend extra kosten.

Und fällt das gute Stück um und auf die falsche Carbonstelle, ist es kaputt. Warum sollte man sich also etwas derart Hochpreisiges und Wertinstabiles kaufen? Gute Frage, dachte ich mir. Und bei BMC waren sie so nett, mir bei der Beantwortung zu helfen. Das Auto auf zwei Rädern kam in einem Pappkarton.

Mein erster Eindruck, ein klassisch-physikalischer: ziemlich leicht die Maschine. Trotz Scheibenbremsen und Pedalen. Denn ohne Pedale fährt es sich bekanntlich schlecht. Also habe ich die mitgewogen. Nicht ganz sieben Kilo, vielleicht 50 Gramm weniger. Das sind ein paar Scheiben Salalmi.

Ausgestattet mit den Berglaufrädern von DT Swiss fühle ich mich gut gerüstet für den Berliner Gipfelsturm. Und den Hügel hoch zum Grunewaldturm tritt es sich tatsächlich sehr leicht und locker. Dass ich schon dachte, da schiebt wer von hinten. Aber da war niemand. Ich habe mich umgeschaut.

Mein Garmin wollte trotzdem keinen Personal Record vermelden, obwohl ich mich selbst schon ganz leicht und locker fühlte. Sollte ich etwa Opfer einer luxuriösen Eigentäuschung geworden sein? Das macht der Mensch ja gerne mal, sich hinters Licht führen. Gerade wenn etwas exklusiv daherkommt.

Umso mehr stellt sich die Frage nach dem Sinn und der Vernunft. Wer braucht ein Fahrrad für 10.999 Euro, wenn man ein richtig gutes auch für die Hälfte bekommt, das nur 500 Gramm mehr wiegt? Was zugegeben recht viele Scheiben Salami sind. Aber lässt man eine Trinkflasche zuhause, fällt die Wurst nicht mehr ins Gewicht.

Auf der anderen Seite muss vielleicht nicht immer alles vernünftig und sinnvoll sein. Das Gefühl fährt schließlich auch mit. Und auf einer Teammaschine SLR 01 ist das ein gutes Gefühl. Nur sollte man bedenken, dass man mit einem derartigen Geschoss keine Entschuldigung mehr hat. Wenn der Typ mit dem Mountainbike an einem vorbeizieht, lässt sich das nicht auf das mangelhafte Material schieben. Das sollte man wissen: Der Druck wächst, man muss immer performen.

Außer man ist ein notorischer Angeber. Und leistet sich das Luxusgut eben darum: um luxuriös anzugeben. Solche Leute soll es ja auch geben, die das Rennrad passend zum Helm kaufen. Die haben dann aber eher keinen Dacia in der Garage stehen, nehme ich an.

Meine Nachbarin findet das Auto auf zwei Rädern im Übrigen „chic“. Und das stimmt. Die BMC-Maschine ist schön schlank, rhythmisch geschwungen und äußerst aufgeräumt, mit den beiden integrierten Flaschenhalten und so ohne jeden Zug. Denn die Bremsseile verschwinden im orange-roten Lenker-Cockpit. Und geschaltet wird per Funk und Red Etap. Was smoother ist als in einem Dacia.

Bei einem derart schicken Rad muss allerdings auch der Fahrer chic sein – und in shape. Andernfalls leidet das Gesamtbild, wenn das Geschoss von jemandem gelenkt wird, der selbst eher gewichtig dahin kugelt und gerne mal in die Gegend guckt.

Slow Motion in High End, das wäre dann doch ein übertrieben dekadenter Spaß, meine ich. Aber wo hört der Spaß auf und fängt der Snobismus an? Das muss wohl jeder für sich beantworten, der das will und vor allem kann: 10.999 Euro für ein Spielzeug ausgeben.

Mein Fazit des Luxus-Selbstversuches: Entscheidend ist noch immer die Maschine, die obendrauf sitzt. Aber technisch spricht nichts dagegen, wenn die Maschine untendrunter auch ein Auto sein könnte.

 

Genullt

Viele Menschen freuen sich auf das neue Jahr. Rennradfahrer eher nicht. Denn sie müssen dann wieder von vorne anfangen. Von ganz vorne. Null Höhenmeter, null Kilometer, null Stunden. So steht es mit dem Silvesterknall bei Strava. Alles Ertretene und Erfluchte der zurückliegenden zwölf Monate – weggenullt.

Auf der anderen Seite: Ohne ein Ende würde unser Kilometerberg immer weiter anwachsen und irgendwann an den Mond anstoßen, ohne dass wir das merkten. Deshalb hat es doch sein Gutes, dass das Radsportjahr vergeht. Nur so können wir uns im nächsten übertreffen. Und sei es, indem wir zumindest mehr Kudos bekommen als das Jahr zuvor.

Und am 1.1. können wir auch noch glauben, diesmal mit unserem unbekannten Strava-Freund Kai mitzuhalten, der offensichtlich weder arbeitet noch schläft und deshalb schon im Mai die 10.000 Kilometer voll hat. Der Jahresanfang ist auch eine Illusion.

Also fangen wir wieder von vorne an. Beziehungsweise: von unten. Wie Sisyphos. Vielleicht wäre der verdammte Felshochroller eine weniger tragische Figur, hätte es damals in Griechenland schon Strava gegeben. Dann hätte Sisyphos zumindest gewusst, wie häufig er den Stein schon hochgestemmt hat und wie viele Höhenmeter dabei zusammengekommen sind. Das im Kopf auszurechnen, ist doch recht mühsam. Muss Sisyphos den Brocken doch auf ewig hochhieven.

Wir könnten hingegen damit aufhören. Unser Höher und Immer-weiter ist keine Gottesstrafe, sondern selbstgewähltes Schicksal. Aber wir hören nicht auf. Sondern lassen uns von kalifornischen Hipster-Kapitalisten zur Null degradieren. Auch das ist der Jahresanfang: eine unbequeme Selbst-Befragung. Wozu das Ganze?

Vielleicht ja, um dem stets Wiederkehrenden einen sagenhaften Sinn zu geben. Bei Strava nennen sich mehrere Fahrer Sisyphus. Manche mit Vornamen, andere mit Nachnamen. „Happy Sisyphus“ heißt der aus Malaysia. Ein anderer kommt aus Fronhausen. Den Ort gibt es wirklich. Der liegt bei Marburg.

Fronhausen. Ich glaube, da könnte man auch prima Silvester feiern.

Roger Kluge

Roger Kluge hat auf der Bahn das Rennradfahren gelernt. Und dem Rundendrehen gehört noch immer seine Leidenschaft. Sein Geld verdient der gebürtige Brandenburger, der in Berlin lebt, aber auf der Straße. Als Anfahrer des australischen Top-Sprinters Caleb Ewan feierte Kluge auch im Corona-Jahr 2020 Etappensiege bei der Tour de France.

Ich sprach mit Roger Kluge über Fairness im Feld, lebensgefährliche Stürze, Trainieren im Lockdown und seinen Traum von Olympia. Und keine Bange: So eng zusammengesessen haben wir nur für das Foto.

Späte Liebe

Berge waren für mich früher alle faschistoid. Dieses Alpenglühen, Luis Trenker, seine „Kameraden der Berge“. Und Adolf Hitler hat schließlich auch nicht an der Ostsee geurlaubt, sondern größenwahnsinnig in Obersalzberg. Also bin ich da nie hin, in die Berge.

Schon als Kind nicht. Meine Eltern mochten das Meer lieber. Und da sie nicht Skifahren konnten, konnte ich das auch nicht. Juist, Langeoog, Bornholm. Von mir aus hätte das so weitergehen können, mit dem Wasser. Zumal später noch das Mittelmeer hinzu kam. Und am Atlantik war’s auch schön. Mir hat nichts gefehlt – ohne Berge.

Aber ich muss so eine Ahnung gehabt haben. Warum sonst hätte ich mein Rennrad, das ich nur aus Versehen gekauft hatte und von dem ich gar nicht mehr wusste, dass es das noch gab, hinten auf den Camper schnallen sollen? Und wahrscheinlich war es auch kein Zufall, dass wir ausgerechnet am Mont Ventoux anhielten. Jedenfalls hob ich eines Morgens das Rad vom Träger und sagte: Da fahr‘ ich jetzt hoch.

Es war genauso heiß, wie in den Geschichten, die ich später über den Ventoux lesen sollte. Aber damals wusste ich noch nichts vom Mythos des Kahlen und empfand mich noch weniger als Teil davon. Mir war einfach nur heiß.

Als ich das erste Mal abstieg, war ich enttäuscht, aber noch mehr war ich beeindruckt von der Unbarmherzigkeit, mit der diese Straße ihre Bahn zog. Luis Trenker und Adolf Hitler waren mir egal, ich wollte weiter, weiter hoch.

Als ich es geschafft hatte und unter dem Antennenturm stand, ahnte ich: Diese Geschichte würde hier nicht enden. Denn obschon ich zweimal noch hatte absteigen müssen, erfüllte mich ein Gefühl des Stolzes, das von innen wohlig wärmte, und mir weder rechtsradikal noch irrsinnig vorkam.

Wieder unten angekommen, machten mir zwei rennradkundige Mitcamper Mut. 42/24 sei nun wirklich keine Bergübersetzung und Absteigen deshalb keine Schande. Also kaufte ich mir ein Aluminiumrad mit Kompaktschaltung und steuerte im Sommer drauf Alpe D’Huez an, um mich unvermittelt in einem Jedermann-Rennen wiederzufinden, was ja wohl kaum ein Zufall sein kann. Und als ich die ersten Leute überholte, wusste ich: Aus dieser Geschichte komme ich nicht mehr raus.

Seitdem bin ich viele Berge hochgefahren und stand unter vielen beklebten Passschildern, vor allem in den Alpen. Aber geglüht haben immer nur meine Oberschenkel – und keine Nazis. Ich glaube auch, den Alpen ist es wurscht, wer sich in ihrer Mächtigkeit überhöht. Wobei ich mir dort oben immer sehr klein vorkomme.

Den Bergen wird das so oder so egal sein. Die stehen einfach da. Und das tun sie auch noch, wenn eines fernen Tages alle Ideologien – und mit ihm der Mensch – verschwunden sein werden. Wie dann vermutlich auch alle Rennräder verschwunden sind. Was natürlich traurig ist, gibt es doch wirklich schöne Räder und lehrt einem das Rennradfahren nicht nur Demut, sondern bietet auch die Chance, seine Vergangenheit und seine Vorurteile hinter zu lassen.

Ans Meer fahre ich übrigens nur noch selten. Das ist mir irgendwie zu flach.

Balou

Tätowierungen sind im Peloton eher selten. Außer man fährt bei Hipster-Rennen mit. Aber dieses ganze Fixie-Getue und immer derselbe Gang, das ist mir zu starr. Außerdem zeichnen sich Muskelstränge auf unbemalter Haut besser ab als auf bemalter.

Umso überraschter war ich, als ich Kai traf. Im Erzgebirge. Ultegra 10-fach. Ganz klassisch. Nur seine Wade sah seltsam aus. Dreck war das keiner. Dreck macht kein Gesicht und hat auch keine Ohren.

„Balou“, klärte mich Kai auf. Der da auf seiner Wade sei Balou, sein Riesenschnauzer. Ich habe mal einen Marathonläufer kennengelernt, der hatte sich seine Bestzeit auf’s Bein tätowieren lassen. 2 Stunden 38 und ein paar Zerquetschte. Schneller würde er eh nicht mehr werden, war seine Begründung. Aber warum lässt man sich einen Riesenschnauzer auf den Unterschenkel stechen? „Warum nicht?“, fragte Kai zurück.

Vielleicht, weil der Hintermann denken könnte, Kai habe eine Meise, zusätzlich zum Hund. Muss man Hunde doch schon deshalb nicht umherfahren, weil die vier Beine haben, auf denen sie prima laufen können. Aber möglicherweise würde Balou auch einfach weglaufen. Er wirkt sehr friedfertig und fletscht noch nicht einmal im Ansatz die Zähne. Ich bezweifele, dass Balou sein Herrchen verteidigen würde.

Kai hat im Übrigen nicht nur einen Riesenschnauzer, sondern auch eine Frau. Die hat er aber nirgendwo tätowiert. Das würde ich noch verstehen, wenn man sich seine große Liebe unter die Haut jagt. Meine heißt Nishiki. Nishiki Competition. Baujahr 1984. Leider ist der Sattel zitronengelb. Und gelb lässt mich immer so blass aussehen.

Gratulation der Geschlechter

 

Diesmal ist alles anders bei der Tour de France – und das nicht nur wegen Corona. Die Etappensieger werden zwar weiterhin von zwei Hostessen eingerahmt, aber nur eine ist weiblich – und die andere, genau: männlich. Der Tour-Veranstalter versteht seine geschlechts-paritätische Neuerung als Zeichen gegen Sexismus. Ich sehe hingegen lauter Gefahren bei der Umsetzung.

Wobei ich nicht sicher bin, ob die Ausgestaltung von Siegerehrungen das dringlichste Problem des hochriskanten Radsports ist. Zumal gerade mal 38.000 Unterschriften zusammengekommen sind für die Abschaffung der Podiums-Hostessen. Die Petition für das Verbot von Berliner Pferdekutschen brachte es auf über 80.000.

Womit ich die Tour-de-France-Damen nicht mit Ackergäulen vergleichen will. Schon weil die viel schmaler sind als die Gäule. Allerdings auch kleiner. Denn die Rennradfahrer sind meist von niedrigem Wuchs, da sollen die Ehren-Damen die Sieger nicht überragen.

Und sicherlich auch nicht die Ehren-Herren. Aber so viele kleinwüchsige Models gibt es nicht, die zudem nicht breitschultrig sein dürfen. Sonst stehen die Fahrer immer in deren Schatten, und dann kommen die sich irgendwann derart mickrig vor, dass sie am Ende gar nicht mehr gewinnen wollen. Und dann kann man die Tour de France abschaffen.

Fürs erste könnte man sich behelfen, indem man das Siegerpodest höher baut, so ein Meter 50 hoch. Dann guckt auch der kleinste Sieger über die Hostessen hinweg, egal welchen Geschlechts die sind. Da müsste man dann allerdings eine Leiter neben das Podest stellen, damit die Fahrer da auch draufkommen. Die Frage, welche von beiden Hostessen den Sieger küssen darf, kann man dann immer noch klären, wenn der Impfstoff da ist.

Müssen jetzt nur noch die Boxer nachziehen und ihre Nummern-Girls durch Boys ersetzen. Eine gute Gelegenheit böte sich beim Comeback-Kampf von Mike Tyson, Ende November in Las Vegas. Das wäre spannend zu beobachten, wie der Ohrbeißer – und mit ihm die sicherlich wieder zahlreich im Publikum vertretenen Zuhälter – reagieren, wenn Männer glitzernde Schilder mit Zahlen hochhalten und Stöckelschuhe an den Füßen haben.

Ja, man muss manchmal auch was wagen für die Gleichberechtigung.

Am Bier lutschen

 

Corona ist zwar noch nicht wieder nur ein mexikanisches Bier, das kaum jemand trinkt, aber Radrennen sind schon wieder erlaubt, inklusive Windschatten. Was eigentlich schade ist. Ich hätte die Tour de France gerne mal als dreieinhalbtausend Kilometer langes Einzelzeitfahren gesehen. So viele Fahrer, so hübsch aufgereiht, das hätte was Hypnotisches.

Stattdessen klumpen jetzt wieder alle zusammen und „lutschen“ aneinander rum. Eine Verhaltensweise, die ich schon vor Corona ziemlich unappetitlich fand. Kommen die Flüssigkeiten, die der Vordermann nach hinten zum Lutscher wirft, doch aus Untiefen seines Körperinneren, in die man lieber nicht vorstoßen möchte. Und jetzt ist der Rotz auch noch ansteckend!

Möglicherweise. Es kommt wohl auf die Menge an. Das ist beim Gift schließlich genauso. In kleinen Dosen wirkt Strychnin keinesfalls tödlich, sondern ziemlich anregend. Weshalb Rennradfahrer seinerzeit gerne Strychnin zu sich genommen haben. Mir ist allerdings niemand bekannt, der freiwillig Corona nimmt. Was daran liegen könnte, dass Corona sehr gut nachweisbar ist.

Im antiken Rom haben die Athleten übrigens gerne Stierhoden verzehrt. Wegen der Hormone darin. Dabei gab es damals noch gar keine Fahrräder. Was mich zu der Frage bringt: Stehen Stierhoden überhaupt auf der Dopingliste? Vielleicht gelten Hoden in pürierter Form inzwischen als Bio-Anabolika und werden im Reformhaus als Viagra-Alternative angeboten. Da müsste man sich mal informieren.

Vor allem aber wüsste ich mal gerne, ob auf den Corona-Kugeln tatsächlich diese roten Propfen sitzen? Da habe ich den Herrn Drosten nie etwas zu sagen hören. Dafür hat er in seinem Podcast mal erzählt, dass er immer mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt. Was mich dann doch wieder beruhigt hat. Solange der Kanzlerin-Virologe Rad fährt, solange werde auch ich Rad fahren dürfen. War meine Überlegung. Also habe ich dieses absurd teure Spinningrad nicht gekauft. Welch ein Glück, damals im April.

Im Februar war ich noch auf Mallorca. Sieben Tage Sonne und die letzten beiden sogar in kurzer Hose. Wunderbar! Nur leider kann ich das niemanden erzählen. Das erzeugt nur Neid. Vor allem bei den Kollegen, die im März noch auf die Insel sind und dann nicht raus durften aus dem Hotel.

Und jetzt ist der Sommer schon bald vorbei und Corona noch immer da. Logisch, so ein Virus hat schließlich keinen Urlaub. Wahrscheinlich kriegen Viren nicht einmal Tariflohn. Und ob die sich sonderlich für die Tour de France interessieren, wage ich auch mal zu bezweifeln.

Vielleicht überlegt es sich Christian Prudhomme ja noch einmal und macht doch ein Einzelzeitfahren daraus. Das wäre mal was anderes. Auch für den Tour-Direktor, der jedem Lutscher zur Strafe einen Sack Kartoffeln auf den Gepäckträger klemmen könnte. Den müssten die Fahrer natürlich am Rad montiert haben, den Gepäckträger. Aber das kriegt man schon hin.

Und bei Wiederholungstätern setzt sich Eddy Merckx hinten drauf.

 

One-Way Ticket

 

Corona legt den Radsport lahm. Aber es gibt ja noch die Bücher zum Thema. „One-Way-Ticket“ ist die Autobiografie des ehemaligen Profis und aktuellen Rennstall-Managers Jonathan Vaughters.

Jonathan Vaughters hat Asperger – wie Greta Thunberg. Diese Form des Autismus befähigt Menschen, sich voll und ganz auf eine Sache zu konzentrieren. Bei Thunberg ist es der Klimaschutz, bei Vaughters das Rennradfahren. Und hier vor allem: das Zeitfahren. Alleine gegen die Uhr, bis zur totalen Erschöpfung in die Pedale treten, die Schmerzen einfach ignorieren, – das konnte der US-Boy aus Colorado so gut wie kein anderer. Und das ist das erste, was man bei der Lektüre von „One Way Ticket“ (Covadonga) lernt: Eindimensionalität kann einen im Radsport weit bringen, soziale Kompetenz braucht man hingegen weniger.

Die Fähigkeit zu leiden und sich auf ein Ziel auszurichten, hat Jonathan Vaughters allerdings nicht vor Doping bewahrt. Als er Mitte der 90er-Jahre nach Europa ging, um Profi zu werden, fuhr Vaughters der Konkurrenz hoffnungslos hinterher – trotz Asperger und seiner außergewöhnlich großen Herzkammer. Also griff er selbst zur Spritze. Und der Autor lässt uns durchs Schlüsselloch gucken: Epo in Thermosflaschen, Teamärzte, die unterm Trenchcoat Stoff ins Hotel schmuggeln, Infusionsbeutel, die an der Zimmerwand kleben, – das volle Programm. Und mittendrin der Oberschurke: Lance Armstrong.

Zwei Jahre fuhr Vaughters für das US Postal Team und den Mephisto des Radsports. Aber Vaughters beschreibt Armstrong nicht nur als einen diabolischen Machtmenschen. Zu Beginn seiner Karriere sei Armstrong ein vehementer Dopinggegner gewesen. Die Seiten habe er gewechselt, weil sich Armstrong um seinen rechtmäßigen Erfolg gebracht sah.

Jonathan Vaughters hatte beim Dopen stets ein schlechtes Gewissen. Schreibt er in seiner beim Covadonga-Verlag erschienen Autobiografie („One-Way Ticket“). Und dass Gewissensbisse der Grund gewesen seien, warum er mit dem Radsport aufgehört hat. Endlich frei sein – und Schluss machen mit der Sucht. Losgekommen vom Radsport ist Vaughters nicht. Als Manager und Rennstall-Leiter spielte er schon bald wieder mit im Pedal- Zirkus. Wenn auch unter anderen Vorzeichen. Das von ihm gegründete Slipstream-Team trat an, sauber zu sein. Es galt eine strikte Antidoping-Linie; und Vaughters sagte als Kronzeuge gegen Lance Armstrong aus.

Möglicherweise überhöht Vaughters seine Rolle als Aufklärer und Erneuerer. Zwischen den Zeilen liest man: Gerne hätte er Armstrong höchstpersönlich zu Fall gebracht. Wohl auch, um im Kampf gegen die eigene Vergangenheit als Sieger hervorzugehen.

Dabei ist der Radsport auch ohne Doping ein Sport der Lügen. Gibt Vaughters freimütig zu. Dass er mit seinem Rennradstall schon des Öfteren vor der Pleite stand und dennoch Fahrer überredete, ihren Vertrag zu verlängern. Immerhin: Epo muss Jonathan Vaughters dafür nicht spritzen. Und offensichtlich lassen sich Vertragsgespräche auch mit Asperger erfolgreich führen.

Gestürzt – Dominik Nerz

 

Corona legt den Radsport lahm. Aber es gibt ja noch die Bücher zum Thema. Beispielsweise eine Biografie über Dominik Nerz, der als große deutsche Radsport-Hoffnung galt, aber am Profi-Geschäft und an sich selbst scheiterte.

„Gestürzt“ heißt das Buch über Dominik Nerz (Covadonga-Verlag). Und dieser Titel ist nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen – sondern wörtlich. Dominik Nerz ist in seiner kurzen Karriere viele Male gestürzt. Was an sich nichts Besonderes ist. Das Zu-Boden-gehen gehört im Radsport dazu wie das Im-Sattel-sitzen. Eine Unachtsamkeit, Erschöpfung, Sand in der Kurve, ein Vordermann, der plötzlich ausschert,- es gibt viele Gründe, sich auf dem Asphalt wiederzufinden. Meistens stehen die Rennradprofis danach wieder auf und setzen die Fahrt fort. Das bringen die Trainer schon den Zehnjährigen bei: aufstehen und weiterfahren. Denn wer sitzen bleibt und erst mal schaut, ob auch nichts gebrochen ist, hat keine Chance mehr. Dann sind die anderen weg.

Auch Dominik Nerz ist immer wieder in den Sattel gesprungen. Bei Jugendrennen in seiner Heimat im Allgäu, als Nachwuchsfahrer, der die nationale Konkurrenz hinter sich ließ, und als Profi sowieso. Aufstehen und weiterfahren. Aber im Juni 2015, bei der 7. Etappe der Dauphiné-Rundfahrt, blieb Nerz sitzen – und schrie. Ein Foto im Buch zeigt die Szene kurz nach dem Sturz: Da kauert Dominik Nerz an der Tunnelmauer, vor die er gerade gekracht war, und wie er so dasitzt, schreiend und weinend, da ahnt man: dieser Sturz war der eine zu viel.

 

Tatsächlich war er das, und auch hier im Wortsinne: Dominik Nerz erlitt bei dem Sturz mutmaßlich eine Gehirnerschütterung, was er den Ärzten verschwieg, um seinen Start bei der Tour de France nicht zu gefährden. Als Kapitän sollte er das Team Bora Argon 18 in das bedeutendste Radrennen der Welt führen. Kapitän mit gerade mal 25 Jahren! Das ist ein Ritterschlag – und eine Bürde. Teamchef Ralph Denk hatte gesagt: der Nerz schafft es bei der Tour unter die besten Zehn. Da konnte Dominik Nerz jetzt keine Gehirnerschütterung gebrauchen. Also saß er wenige Tage nach dem Sturz, der der eine zu viel war, schon wieder auf dem Rad und trainierte trotz Kopfschmerzen. Auch das lernen Rennradfahrer von kleinauf: Warnsignale des eigenen Körpers zu ignorieren. Aufstehen und Weiterfahren.

Die Tour de France 2015 wurde für Nerz zu einem Debakel. Was wenig verwundert, litt Nerz doch unter Schwindelgefühlen, die mutmaßlich die Folge mehrerer unbehandelter Gehirnerschütterungen waren. Zudem hatte sich Nerz in den Wochen zuvor in eine Magersucht hineingehungert. Er wollte noch leichter werden, als er es ohnehin schon war, damit er die Berge besser hochkommen würde. Am Ende war Nerz ausgemergelt und abgeschlagen.

Man könnte es sich leicht machen und sagen: Dominik Nerz war einfach nicht gemacht für den Profi-Radsport. Wie auch Sebastian Deisler nicht gemacht war für den Profi-Fußball. Zu nachdenklich, zu grüblerisch, zu viele Selbstzweifel. Aber dann würde man es sich zu leicht machen. Und man würde das Buch nicht zu Ende lesen. Was ich aber getan habe. Denn diese Biografie zeigt nicht nur das Innenleben eines mit sich hadernden jungen Mannes; „Gestürzt“ offenbart die unbarmherzigen Mechanismen des Profi-Radsports: Aufstehen und weiterfahren. Ein Rennradfahrer kennt keine Schmerzen – und seelische schon gar nicht.

Der Buchautor Michael Ostermann hat Dominik Nerz viele Stunden interviewt. Das eigentliche Verdienst des Hamburger Journalisten aber ist es, zahlreiche Weggefährten zu Wort kommen zu lassen: Eltern, Ärzte, Manager, Sportliche Leiter, Fahrer-Kollegen. Die einen sind voller Mitgefühl, die anderen machen aus ihrem Unverständnis keinen Hehl. Am Ende stehen sich zwei Welten gegenüber, die des Dominik Nerz und die des Radsports. Und eines ist klar: der Radsport wird kein anderer durch den Sturz eines einst so hoffnungsvollen Talentes. Mit 27 Jahren hat Dominik Nerz seine Karriere beendet. Zu früh und doch auch zu spät.