One-Way Ticket

 

Corona legt den Radsport lahm. Aber es gibt ja noch die Bücher zum Thema. „One-Way-Ticket“ ist die Autobiografie des ehemaligen Profis und aktuellen Rennstall-Managers Jonathan Vaughters.

Jonathan Vaughters hat Asperger – wie Greta Thunberg. Diese Form des Autismus befähigt Menschen, sich voll und ganz auf eine Sache zu konzentrieren. Bei Thunberg ist es der Klimaschutz, bei Vaughters das Rennradfahren. Und hier vor allem: das Zeitfahren. Alleine gegen die Uhr, bis zur totalen Erschöpfung in die Pedale treten, die Schmerzen einfach ignorieren, – das konnte der US-Boy aus Colorado so gut wie kein anderer. Und das ist das erste, was man bei der Lektüre von „One Way Ticket“ (Covadonga) lernt: Eindimensionalität kann einen im Radsport weit bringen, soziale Kompetenz braucht man hingegen weniger.

Die Fähigkeit zu leiden und sich auf ein Ziel auszurichten, hat Jonathan Vaughters allerdings nicht vor Doping bewahrt. Als er Mitte der 90er-Jahre nach Europa ging, um Profi zu werden, fuhr Vaughters der Konkurrenz hoffnungslos hinterher – trotz Asperger und seiner außergewöhnlich großen Herzkammer. Also griff er selbst zur Spritze. Und der Autor lässt uns durchs Schlüsselloch gucken: Epo in Thermosflaschen, Teamärzte, die unterm Trenchcoat Stoff ins Hotel schmuggeln, Infusionsbeutel, die an der Zimmerwand kleben, – das volle Programm. Und mittendrin der Oberschurke: Lance Armstrong.

Zwei Jahre fuhr Vaughters für das US Postal Team und den Mephisto des Radsports. Aber Vaughters beschreibt Armstrong nicht nur als einen diabolischen Machtmenschen. Zu Beginn seiner Karriere sei Armstrong ein vehementer Dopinggegner gewesen. Die Seiten habe er gewechselt, weil sich Armstrong um seinen rechtmäßigen Erfolg gebracht sah.

Jonathan Vaughters hatte beim Dopen stets ein schlechtes Gewissen. Schreibt er in seiner beim Covadonga-Verlag erschienen Autobiografie („One-Way Ticket“). Und dass Gewissensbisse der Grund gewesen seien, warum er mit dem Radsport aufgehört hat. Endlich frei sein – und Schluss machen mit der Sucht. Losgekommen vom Radsport ist Vaughters nicht. Als Manager und Rennstall-Leiter spielte er schon bald wieder mit im Pedal- Zirkus. Wenn auch unter anderen Vorzeichen. Das von ihm gegründete Slipstream-Team trat an, sauber zu sein. Es galt eine strikte Antidoping-Linie; und Vaughters sagte als Kronzeuge gegen Lance Armstrong aus.

Möglicherweise überhöht Vaughters seine Rolle als Aufklärer und Erneuerer. Zwischen den Zeilen liest man: Gerne hätte er Armstrong höchstpersönlich zu Fall gebracht. Wohl auch, um im Kampf gegen die eigene Vergangenheit als Sieger hervorzugehen.

Dabei ist der Radsport auch ohne Doping ein Sport der Lügen. Gibt Vaughters freimütig zu. Dass er mit seinem Rennradstall schon des Öfteren vor der Pleite stand und dennoch Fahrer überredete, ihren Vertrag zu verlängern. Immerhin: Epo muss Jonathan Vaughters dafür nicht spritzen. Und offensichtlich lassen sich Vertragsgespräche auch mit Asperger erfolgreich führen.

Gestürzt – Dominik Nerz

 

Corona legt den Radsport lahm. Aber es gibt ja noch die Bücher zum Thema. Beispielsweise eine Biografie über Dominik Nerz, der als große deutsche Radsport-Hoffnung galt, aber am Profi-Geschäft und an sich selbst scheiterte.

„Gestürzt“ heißt das Buch über Dominik Nerz (Covadonga-Verlag). Und dieser Titel ist nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen – sondern wörtlich. Dominik Nerz ist in seiner kurzen Karriere viele Male gestürzt. Was an sich nichts Besonderes ist. Das Zu-Boden-gehen gehört im Radsport dazu wie das Im-Sattel-sitzen. Eine Unachtsamkeit, Erschöpfung, Sand in der Kurve, ein Vordermann, der plötzlich ausschert,- es gibt viele Gründe, sich auf dem Asphalt wiederzufinden. Meistens stehen die Rennradprofis danach wieder auf und setzen die Fahrt fort. Das bringen die Trainer schon den Zehnjährigen bei: aufstehen und weiterfahren. Denn wer sitzen bleibt und erst mal schaut, ob auch nichts gebrochen ist, hat keine Chance mehr. Dann sind die anderen weg.

Auch Dominik Nerz ist immer wieder in den Sattel gesprungen. Bei Jugendrennen in seiner Heimat im Allgäu, als Nachwuchsfahrer, der die nationale Konkurrenz hinter sich ließ, und als Profi sowieso. Aufstehen und weiterfahren. Aber im Juni 2015, bei der 7. Etappe der Dauphiné-Rundfahrt, blieb Nerz sitzen – und schrie. Ein Foto im Buch zeigt die Szene kurz nach dem Sturz: Da kauert Dominik Nerz an der Tunnelmauer, vor die er gerade gekracht war, und wie er so dasitzt, schreiend und weinend, da ahnt man: dieser Sturz war der eine zu viel.

 

Tatsächlich war er das, und auch hier im Wortsinne: Dominik Nerz erlitt bei dem Sturz mutmaßlich eine Gehirnerschütterung, was er den Ärzten verschwieg, um seinen Start bei der Tour de France nicht zu gefährden. Als Kapitän sollte er das Team Bora Argon 18 in das bedeutendste Radrennen der Welt führen. Kapitän mit gerade mal 25 Jahren! Das ist ein Ritterschlag – und eine Bürde. Teamchef Ralph Denk hatte gesagt: der Nerz schafft es bei der Tour unter die besten Zehn. Da konnte Dominik Nerz jetzt keine Gehirnerschütterung gebrauchen. Also saß er wenige Tage nach dem Sturz, der der eine zu viel war, schon wieder auf dem Rad und trainierte trotz Kopfschmerzen. Auch das lernen Rennradfahrer von kleinauf: Warnsignale des eigenen Körpers zu ignorieren. Aufstehen und Weiterfahren.

Die Tour de France 2015 wurde für Nerz zu einem Debakel. Was wenig verwundert, litt Nerz doch unter Schwindelgefühlen, die mutmaßlich die Folge mehrerer unbehandelter Gehirnerschütterungen waren. Zudem hatte sich Nerz in den Wochen zuvor in eine Magersucht hineingehungert. Er wollte noch leichter werden, als er es ohnehin schon war, damit er die Berge besser hochkommen würde. Am Ende war Nerz ausgemergelt und abgeschlagen.

Man könnte es sich leicht machen und sagen: Dominik Nerz war einfach nicht gemacht für den Profi-Radsport. Wie auch Sebastian Deisler nicht gemacht war für den Profi-Fußball. Zu nachdenklich, zu grüblerisch, zu viele Selbstzweifel. Aber dann würde man es sich zu leicht machen. Und man würde das Buch nicht zu Ende lesen. Was ich aber getan habe. Denn diese Biografie zeigt nicht nur das Innenleben eines mit sich hadernden jungen Mannes; „Gestürzt“ offenbart die unbarmherzigen Mechanismen des Profi-Radsports: Aufstehen und weiterfahren. Ein Rennradfahrer kennt keine Schmerzen – und seelische schon gar nicht.

Der Buchautor Michael Ostermann hat Dominik Nerz viele Stunden interviewt. Das eigentliche Verdienst des Hamburger Journalisten aber ist es, zahlreiche Weggefährten zu Wort kommen zu lassen: Eltern, Ärzte, Manager, Sportliche Leiter, Fahrer-Kollegen. Die einen sind voller Mitgefühl, die anderen machen aus ihrem Unverständnis keinen Hehl. Am Ende stehen sich zwei Welten gegenüber, die des Dominik Nerz und die des Radsports. Und eines ist klar: der Radsport wird kein anderer durch den Sturz eines einst so hoffnungsvollen Talentes. Mit 27 Jahren hat Dominik Nerz seine Karriere beendet. Zu früh und doch auch zu spät.