Ein Auto auf zwei Rädern

Es gibt Leute, die stellen sich eine Hifi-Anlage für 11.000 Euro in die Bude und hören dann doch nur „Smoke on the Water“. Insofern könnte es moralisch auch vertretbar sein, auf einem sehr teuren Rennrad Trainingsrunden zu drehen, die man üblicherweise mit seinem alten Klepper dreht. Und 11.000 Euro kostet die BMC Teammaschine SLR 01 ja gar nicht. Sondern nur 10.999.

Ja, für das Geld bekommt man auch ein Auto. Wenn auch nur einen Dacia. Der hätte dann aber immerhin Klimaanlage, Tempomat, Einparkhilfe, beheizbare Außenspiegel sowie auf Wunsch die Sonderlackierung Kalahari-Rot. Ach ja, ein Ersatzrad wäre auch noch inklusive. Das fehlt bei der Teammaschine. Würde nochmal anderthalb Tausend extra kosten.

Und fällt das gute Stück um und auf die falsche Carbonstelle, ist es kaputt. Warum sollte man sich also etwas derart Hochpreisiges und Wertinstabiles kaufen? Gute Frage, dachte ich mir. Und bei BMC waren sie so nett, mir bei der Beantwortung zu helfen. Das Auto auf zwei Rädern kam in einem Pappkarton.

Mein erster Eindruck, ein klassisch-physikalischer: ziemlich leicht die Maschine. Trotz Scheibenbremsen und Pedalen. Denn ohne Pedale fährt es sich bekanntlich schlecht. Also habe ich die mitgewogen. Nicht ganz sieben Kilo, vielleicht 50 Gramm weniger. Das sind ein paar Scheiben Salalmi.

Ausgestattet mit den Berglaufrädern von DT Swiss fühle ich mich gut gerüstet für den Berliner Gipfelsturm. Und den Hügel hoch zum Grunewaldturm tritt es sich tatsächlich sehr leicht und locker. Dass ich schon dachte, da schiebt wer von hinten. Aber da war niemand. Ich habe mich umgeschaut.

Mein Garmin wollte trotzdem keinen Personal Record vermelden, obwohl ich mich selbst schon ganz leicht und locker fühlte. Sollte ich etwa Opfer einer luxuriösen Eigentäuschung geworden sein? Das macht der Mensch ja gerne mal, sich hinters Licht führen. Gerade wenn etwas exklusiv daherkommt.

Umso mehr stellt sich die Frage nach dem Sinn und der Vernunft. Wer braucht ein Fahrrad für 10.999 Euro, wenn man ein richtig gutes auch für die Hälfte bekommt, das nur 500 Gramm mehr wiegt? Was zugegeben recht viele Scheiben Salami sind. Aber lässt man eine Trinkflasche zuhause, fällt die Wurst nicht mehr ins Gewicht.

Auf der anderen Seite muss vielleicht nicht immer alles vernünftig und sinnvoll sein. Das Gefühl fährt schließlich auch mit. Und auf einer Teammaschine SLR 01 ist das ein gutes Gefühl. Nur sollte man bedenken, dass man mit einem derartigen Geschoss keine Entschuldigung mehr hat. Wenn der Typ mit dem Mountainbike an einem vorbeizieht, lässt sich das nicht auf das mangelhafte Material schieben. Das sollte man wissen: Der Druck wächst, man muss immer performen.

Außer man ist ein notorischer Angeber. Und leistet sich das Luxusgut eben darum: um luxuriös anzugeben. Solche Leute soll es ja auch geben, die das Rennrad passend zum Helm kaufen. Die haben dann aber eher keinen Dacia in der Garage stehen, nehme ich an.

Meine Nachbarin findet das Auto auf zwei Rädern im Übrigen „chic“. Und das stimmt. Die BMC-Maschine ist schön schlank, rhythmisch geschwungen und äußerst aufgeräumt, mit den beiden integrierten Flaschenhalten und so ohne jeden Zug. Denn die Bremsseile verschwinden im orange-roten Lenker-Cockpit. Und geschaltet wird per Funk und Red Etap. Was smoother ist als in einem Dacia.

Bei einem derart schicken Rad muss allerdings auch der Fahrer chic sein – und in shape. Andernfalls leidet das Gesamtbild, wenn das Geschoss von jemandem gelenkt wird, der selbst eher gewichtig dahin kugelt und gerne mal in die Gegend guckt.

Slow Motion in High End, das wäre dann doch ein übertrieben dekadenter Spaß, meine ich. Aber wo hört der Spaß auf und fängt der Snobismus an? Das muss wohl jeder für sich beantworten, der das will und vor allem kann: 10.999 Euro für ein Spielzeug ausgeben.

Mein Fazit des Luxus-Selbstversuches: Entscheidend ist noch immer die Maschine, die obendrauf sitzt. Aber technisch spricht nichts dagegen, wenn die Maschine untendrunter auch ein Auto sein könnte.

 

Späte Liebe

Berge waren für mich früher alle faschistoid. Dieses Alpenglühen, Luis Trenker, seine „Kameraden der Berge“. Und Adolf Hitler hat schließlich auch nicht an der Ostsee geurlaubt, sondern größenwahnsinnig in Obersalzberg. Also bin ich da nie hin, in die Berge.

Schon als Kind nicht. Meine Eltern mochten das Meer lieber. Und da sie nicht Skifahren konnten, konnte ich das auch nicht. Juist, Langeoog, Bornholm. Von mir aus hätte das so weitergehen können, mit dem Wasser. Zumal später noch das Mittelmeer hinzu kam. Und am Atlantik war’s auch schön. Mir hat nichts gefehlt – ohne Berge.

Aber ich muss so eine Ahnung gehabt haben. Warum sonst hätte ich mein Rennrad, das ich nur aus Versehen gekauft hatte und von dem ich gar nicht mehr wusste, dass es das noch gab, hinten auf den Camper schnallen sollen? Und wahrscheinlich war es auch kein Zufall, dass wir ausgerechnet am Mont Ventoux anhielten. Jedenfalls hob ich eines Morgens das Rad vom Träger und sagte: Da fahr‘ ich jetzt hoch.

Es war genauso heiß, wie in den Geschichten, die ich später über den Ventoux lesen sollte. Aber damals wusste ich noch nichts vom Mythos des Kahlen und empfand mich noch weniger als Teil davon. Mir war einfach nur heiß.

Als ich das erste Mal abstieg, war ich enttäuscht, aber noch mehr war ich beeindruckt von der Unbarmherzigkeit, mit der diese Straße ihre Bahn zog. Luis Trenker und Adolf Hitler waren mir egal, ich wollte weiter, weiter hoch.

Als ich es geschafft hatte und unter dem Antennenturm stand, ahnte ich: Diese Geschichte würde hier nicht enden. Denn obschon ich zweimal noch hatte absteigen müssen, erfüllte mich ein Gefühl des Stolzes, das von innen wohlig wärmte, und mir weder rechtsradikal noch irrsinnig vorkam.

Wieder unten angekommen, machten mir zwei rennradkundige Mitcamper Mut. 42/24 sei nun wirklich keine Bergübersetzung und Absteigen deshalb keine Schande. Also kaufte ich mir ein Aluminiumrad mit Kompaktschaltung und steuerte im Sommer drauf Alpe D’Huez an, um mich unvermittelt in einem Jedermann-Rennen wiederzufinden, was ja wohl kaum ein Zufall sein kann. Und als ich die ersten Leute überholte, wusste ich: Aus dieser Geschichte komme ich nicht mehr raus.

Seitdem bin ich viele Berge hochgefahren und stand unter vielen beklebten Passschildern, vor allem in den Alpen. Aber geglüht haben immer nur meine Oberschenkel – und keine Nazis. Ich glaube auch, den Alpen ist es wurscht, wer sich in ihrer Mächtigkeit überhöht. Wobei ich mir dort oben immer sehr klein vorkomme.

Den Bergen wird das so oder so egal sein. Die stehen einfach da. Und das tun sie auch noch, wenn eines fernen Tages alle Ideologien – und mit ihm der Mensch – verschwunden sein werden. Wie dann vermutlich auch alle Rennräder verschwunden sind. Was natürlich traurig ist, gibt es doch wirklich schöne Räder und lehrt einem das Rennradfahren nicht nur Demut, sondern bietet auch die Chance, seine Vergangenheit und seine Vorurteile hinter zu lassen.

Ans Meer fahre ich übrigens nur noch selten. Das ist mir irgendwie zu flach.

Balou

Tätowierungen sind im Peloton eher selten. Außer man fährt bei Hipster-Rennen mit. Aber dieses ganze Fixie-Getue und immer derselbe Gang, das ist mir zu starr. Außerdem zeichnen sich Muskelstränge auf unbemalter Haut besser ab als auf bemalter.

Umso überraschter war ich, als ich Kai traf. Im Erzgebirge. Ultegra 10-fach. Ganz klassisch. Nur seine Wade sah seltsam aus. Dreck war das keiner. Dreck macht kein Gesicht und hat auch keine Ohren.

„Balou“, klärte mich Kai auf. Der da auf seiner Wade sei Balou, sein Riesenschnauzer. Ich habe mal einen Marathonläufer kennengelernt, der hatte sich seine Bestzeit auf’s Bein tätowieren lassen. 2 Stunden 38 und ein paar Zerquetschte. Schneller würde er eh nicht mehr werden, war seine Begründung. Aber warum lässt man sich einen Riesenschnauzer auf den Unterschenkel stechen? „Warum nicht?“, fragte Kai zurück.

Vielleicht, weil der Hintermann denken könnte, Kai habe eine Meise, zusätzlich zum Hund. Muss man Hunde doch schon deshalb nicht umherfahren, weil die vier Beine haben, auf denen sie prima laufen können. Aber möglicherweise würde Balou auch einfach weglaufen. Er wirkt sehr friedfertig und fletscht noch nicht einmal im Ansatz die Zähne. Ich bezweifele, dass Balou sein Herrchen verteidigen würde.

Kai hat im Übrigen nicht nur einen Riesenschnauzer, sondern auch eine Frau. Die hat er aber nirgendwo tätowiert. Das würde ich noch verstehen, wenn man sich seine große Liebe unter die Haut jagt. Meine heißt Nishiki. Nishiki Competition. Baujahr 1984. Leider ist der Sattel zitronengelb. Und gelb lässt mich immer so blass aussehen.

One-Way Ticket

 

Corona legt den Radsport lahm. Aber es gibt ja noch die Bücher zum Thema. „One-Way-Ticket“ ist die Autobiografie des ehemaligen Profis und aktuellen Rennstall-Managers Jonathan Vaughters.

Jonathan Vaughters hat Asperger – wie Greta Thunberg. Diese Form des Autismus befähigt Menschen, sich voll und ganz auf eine Sache zu konzentrieren. Bei Thunberg ist es der Klimaschutz, bei Vaughters das Rennradfahren. Und hier vor allem: das Zeitfahren. Alleine gegen die Uhr, bis zur totalen Erschöpfung in die Pedale treten, die Schmerzen einfach ignorieren, – das konnte der US-Boy aus Colorado so gut wie kein anderer. Und das ist das erste, was man bei der Lektüre von „One Way Ticket“ (Covadonga) lernt: Eindimensionalität kann einen im Radsport weit bringen, soziale Kompetenz braucht man hingegen weniger.

Die Fähigkeit zu leiden und sich auf ein Ziel auszurichten, hat Jonathan Vaughters allerdings nicht vor Doping bewahrt. Als er Mitte der 90er-Jahre nach Europa ging, um Profi zu werden, fuhr Vaughters der Konkurrenz hoffnungslos hinterher – trotz Asperger und seiner außergewöhnlich großen Herzkammer. Also griff er selbst zur Spritze. Und der Autor lässt uns durchs Schlüsselloch gucken: Epo in Thermosflaschen, Teamärzte, die unterm Trenchcoat Stoff ins Hotel schmuggeln, Infusionsbeutel, die an der Zimmerwand kleben, – das volle Programm. Und mittendrin der Oberschurke: Lance Armstrong.

Zwei Jahre fuhr Vaughters für das US Postal Team und den Mephisto des Radsports. Aber Vaughters beschreibt Armstrong nicht nur als einen diabolischen Machtmenschen. Zu Beginn seiner Karriere sei Armstrong ein vehementer Dopinggegner gewesen. Die Seiten habe er gewechselt, weil sich Armstrong um seinen rechtmäßigen Erfolg gebracht sah.

Jonathan Vaughters hatte beim Dopen stets ein schlechtes Gewissen. Schreibt er in seiner beim Covadonga-Verlag erschienen Autobiografie („One-Way Ticket“). Und dass Gewissensbisse der Grund gewesen seien, warum er mit dem Radsport aufgehört hat. Endlich frei sein – und Schluss machen mit der Sucht. Losgekommen vom Radsport ist Vaughters nicht. Als Manager und Rennstall-Leiter spielte er schon bald wieder mit im Pedal- Zirkus. Wenn auch unter anderen Vorzeichen. Das von ihm gegründete Slipstream-Team trat an, sauber zu sein. Es galt eine strikte Antidoping-Linie; und Vaughters sagte als Kronzeuge gegen Lance Armstrong aus.

Möglicherweise überhöht Vaughters seine Rolle als Aufklärer und Erneuerer. Zwischen den Zeilen liest man: Gerne hätte er Armstrong höchstpersönlich zu Fall gebracht. Wohl auch, um im Kampf gegen die eigene Vergangenheit als Sieger hervorzugehen.

Dabei ist der Radsport auch ohne Doping ein Sport der Lügen. Gibt Vaughters freimütig zu. Dass er mit seinem Rennradstall schon des Öfteren vor der Pleite stand und dennoch Fahrer überredete, ihren Vertrag zu verlängern. Immerhin: Epo muss Jonathan Vaughters dafür nicht spritzen. Und offensichtlich lassen sich Vertragsgespräche auch mit Asperger erfolgreich führen.

Gestürzt – Dominik Nerz

 

Corona legt den Radsport lahm. Aber es gibt ja noch die Bücher zum Thema. Beispielsweise eine Biografie über Dominik Nerz, der als große deutsche Radsport-Hoffnung galt, aber am Profi-Geschäft und an sich selbst scheiterte.

„Gestürzt“ heißt das Buch über Dominik Nerz (Covadonga-Verlag). Und dieser Titel ist nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen – sondern wörtlich. Dominik Nerz ist in seiner kurzen Karriere viele Male gestürzt. Was an sich nichts Besonderes ist. Das Zu-Boden-gehen gehört im Radsport dazu wie das Im-Sattel-sitzen. Eine Unachtsamkeit, Erschöpfung, Sand in der Kurve, ein Vordermann, der plötzlich ausschert,- es gibt viele Gründe, sich auf dem Asphalt wiederzufinden. Meistens stehen die Rennradprofis danach wieder auf und setzen die Fahrt fort. Das bringen die Trainer schon den Zehnjährigen bei: aufstehen und weiterfahren. Denn wer sitzen bleibt und erst mal schaut, ob auch nichts gebrochen ist, hat keine Chance mehr. Dann sind die anderen weg.

Auch Dominik Nerz ist immer wieder in den Sattel gesprungen. Bei Jugendrennen in seiner Heimat im Allgäu, als Nachwuchsfahrer, der die nationale Konkurrenz hinter sich ließ, und als Profi sowieso. Aufstehen und weiterfahren. Aber im Juni 2015, bei der 7. Etappe der Dauphiné-Rundfahrt, blieb Nerz sitzen – und schrie. Ein Foto im Buch zeigt die Szene kurz nach dem Sturz: Da kauert Dominik Nerz an der Tunnelmauer, vor die er gerade gekracht war, und wie er so dasitzt, schreiend und weinend, da ahnt man: dieser Sturz war der eine zu viel.

 

Tatsächlich war er das, und auch hier im Wortsinne: Dominik Nerz erlitt bei dem Sturz mutmaßlich eine Gehirnerschütterung, was er den Ärzten verschwieg, um seinen Start bei der Tour de France nicht zu gefährden. Als Kapitän sollte er das Team Bora Argon 18 in das bedeutendste Radrennen der Welt führen. Kapitän mit gerade mal 25 Jahren! Das ist ein Ritterschlag – und eine Bürde. Teamchef Ralph Denk hatte gesagt: der Nerz schafft es bei der Tour unter die besten Zehn. Da konnte Dominik Nerz jetzt keine Gehirnerschütterung gebrauchen. Also saß er wenige Tage nach dem Sturz, der der eine zu viel war, schon wieder auf dem Rad und trainierte trotz Kopfschmerzen. Auch das lernen Rennradfahrer von kleinauf: Warnsignale des eigenen Körpers zu ignorieren. Aufstehen und Weiterfahren.

Die Tour de France 2015 wurde für Nerz zu einem Debakel. Was wenig verwundert, litt Nerz doch unter Schwindelgefühlen, die mutmaßlich die Folge mehrerer unbehandelter Gehirnerschütterungen waren. Zudem hatte sich Nerz in den Wochen zuvor in eine Magersucht hineingehungert. Er wollte noch leichter werden, als er es ohnehin schon war, damit er die Berge besser hochkommen würde. Am Ende war Nerz ausgemergelt und abgeschlagen.

Man könnte es sich leicht machen und sagen: Dominik Nerz war einfach nicht gemacht für den Profi-Radsport. Wie auch Sebastian Deisler nicht gemacht war für den Profi-Fußball. Zu nachdenklich, zu grüblerisch, zu viele Selbstzweifel. Aber dann würde man es sich zu leicht machen. Und man würde das Buch nicht zu Ende lesen. Was ich aber getan habe. Denn diese Biografie zeigt nicht nur das Innenleben eines mit sich hadernden jungen Mannes; „Gestürzt“ offenbart die unbarmherzigen Mechanismen des Profi-Radsports: Aufstehen und weiterfahren. Ein Rennradfahrer kennt keine Schmerzen – und seelische schon gar nicht.

Der Buchautor Michael Ostermann hat Dominik Nerz viele Stunden interviewt. Das eigentliche Verdienst des Hamburger Journalisten aber ist es, zahlreiche Weggefährten zu Wort kommen zu lassen: Eltern, Ärzte, Manager, Sportliche Leiter, Fahrer-Kollegen. Die einen sind voller Mitgefühl, die anderen machen aus ihrem Unverständnis keinen Hehl. Am Ende stehen sich zwei Welten gegenüber, die des Dominik Nerz und die des Radsports. Und eines ist klar: der Radsport wird kein anderer durch den Sturz eines einst so hoffnungsvollen Talentes. Mit 27 Jahren hat Dominik Nerz seine Karriere beendet. Zu früh und doch auch zu spät.

 

Der Stuhl

Ich fahre an Sehenswürdigkeiten konsequent vorbei. Vielleicht gucke ich mal rüber zum Schloss, zur Kirche, zur Burg, zum Meer, zu diesem schönen, alten Fachwerkhaus, aber dann gucke ich wieder geradeaus, auf die Straße. Schließlich heißt es Rennradfahren und nicht Rennradanhalten. Deshalb habe ich für mich entschieden, Sehenswürdigkeiten nur noch als solche zu betrachten, die ich auch im Wiegetritt wahrnehmen kann.

Womit ich bei der Birke wäre, an der ich hunderte Male achtlos vorbeigetreten war. Bis sie eines Tages nicht mehr da stand, am Rand des Kronprinzessinnenweges, der Straße also, auf der die allermeisten meiner Trainingsrunden beginnen und auch enden.

Nun kommt das häufiger vor, dass Bäume gefällt werden. Und die Lücke, die die fehlende Birke riss, war nicht sehr groß. Weshalb ich anfangs auch an dem Stumpf achtlos vorbeifuhr. Aber irgendetwas war besonders an diesem Birkenrest. Das konnte ich auch aus der Bewegung heraus erkennen.

Der Stumpf war höher, als es Stümpfe normalerweise sind. Vor allem aber war er nicht gerade abgeschnitten. Wie eine Stufe stand er da am Rand. Oder eher noch wie ein Stuhl. Da war die breite Sitzfläche und im rechten Winkel ging am Ende die Lehne hoch. Birke massiv.

Hatte der Baumfäller eine Sitzgelegenheit gesucht und die Parkbank, die keine hundert Meter entfernt steht, übersehen? Womöglich. Dass ein Rennradfahrerkollege das Outdoor-Möbel modelliert hat, schließe ich aus. Eine Motorsäge passt nicht in die Trikotasche.

Vielleicht wollte der Unbekannte uns Rennradfahrer auch dazu bringen, endlich mal anzuhalten, statt immer an der Welt vorbei zu hasten. Wenn dies das Ziel gewesen sein sollte, hat er es erreicht. Je häufiger ich den Stumpfstuhl passierte, desto mehr wollte ich wissen, wie es sich darauf sitzt. Ganz gut. Die steile Lehne drückt auch gar nicht im Kreuz.

Ich bin dann aber gleich wieder aufgestanden, weil ich nicht wollte, dass mich jemand so dasitzen sieht. Wie ein Rad-Tourist. Oder schlimmer noch: wie einer, der nicht mehr kann.

Der Stuhl wird mittlerweile auch von anderen genutzt. Jemand hat eine „12“ auf die Lehne gesprüht. Warum auch immer. Und auf dem Asphalt davor ist ein rosa Herz gemalt, mit den Initialen „T“ und „G“. Vielleicht steht das „T“ für Tillmann, und Gina hat das „G“ beigesteuert. Ober aber Günther und Theo hatten auf ihre alten Tage nochmal ein aufregendes Birkenstumpfstuhl-Rendezvous. Wer weiß das schon?

Vermutlich werde ich die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung des hölzernen Liebesplatzes nie abschließend klären. Aber das ist okay. Man kann nicht alle Menschheitsrätsel lösen. Das habe ich begriffen. Und für eine solche Erkenntnis halte ich auch mal an. Dieses eine Mal zumindest.

 

Der Windschatten spendende Motorradpolizist

Plötzlich war da dieser Motorradpolizist. Von hinten war er heran geknattert, und ich dachte schon: jetzt bin ich dran. Weil ich doch unerlaubter Weise die Velothon-Strecke befuhr, auf der gleich die Profis lang schießen würden.

Eigentlich wollte ich nur eine kleine Trainingsrunde im Brandenburgischen drehen. Aber wohin ich auch steuerte, überall standen Ordner mit gelben Warnwesten rum und versperrten mir den Weg. Beim dritten Mal bin ich einfach weitergefahren. Und dann kam auch schon der Polizist.

Offensichtlich hatte er übersehen, dass ich keine Startnummer trug. Vielleicht war ihm das auch egal und er wollte später auf der Wache etwas zu erzählen haben. Jedenfalls fragte er mich, ob er mir Windschatten spenden solle. Ich weiß nicht warum ich genickt habe, ich habe es jedenfalls getan. Und so setzte der Mann seine Maschine vor meine und wir bügelten durch Neubeeren und weiter nach Sputendorf, wo die Leute offensichtlich annahmen, ich sei der Spitzenreiter. Jedenfalls waren sie ganz aus dem Häuschen und feuerten mich an.

Dem Polizisten schien der Applaus auch gut zu tun. Er grüßte die Leute mit erhobenem linkem Arm, so wie es die römischen Herrscher in den Gladiatoren-Filmen tun. Ich muss sagen, das ist schon etwas Besonderes, sich wie ein Erster zu fühlen und dabei unter dem Schutz der Ordnungsmacht zu stehen.

Aber wahrscheinlich tauge ich nicht zu einem Hauptmann vom Köpenick oder auch nur zu dem von Sputendorf. Mich beschlich die Sorge, doch noch als Falschfahrer aufzufliegen, und ich signalisierte meinem Vorfahrer, lieber alleine weiter pedalieren zu wollen.

Als der Motorradpolizist weg war, bog ich schnell nach links ab, runter von der Velothon-Strecke. Und so werde ich nie erfahren, ob wir unseren Vorsprung ins Ziel gerettet hätten – und wie die Geschichte des Polizisten endet, die er auf der Wache erzählen würde.

Der Brockenkönig

Ein bisschen mehr Hochachtung, bitte sehr. Schließlich bin ich der Brockenkönig. Das hört sich nicht nur kolossal an, das ist es auch: Brockenkönig 2015, so massiv wie royal, ein Titel für die Ewigkeit.

Okay, wir waren nur zu siebt. Aber es ist nicht meine Schuld, dass sich die Anderen von dem Dauerregen und den fünf Grad Celsius haben abschrecken lassen und meine Altersklasse nach oben offen war, weshalb auch drei Rentner in Schierke am Start standen. Erster ist Erster.

Wenn man den Pokal in ein bestimmtes Licht hält, könnte man meinen, er sei aus Silber und nicht aus Dosenblech. Das kleine Schild auf dem Steinfuß glänzt dagegen golden: „1. Platz über 60 Jahre“, entzifferte ich auf dem Nachhauseweg. Wie, über 60? Ja, da sei ihnen wohl ein kleiner Fehler unterlaufen, entschuldigte sich der Veranstalter tags drauf am Telefon.

Da saß ich da mit meinem Siegerpokal, den einzigen, den ich jemals erhalten hatte, den ich aber niemandem vorzeigen konnte, weil ich mich nicht als Ü-60-Jähriger ausgeben wollte, der ich, Gott sei Dank, noch nicht bin.

Sollte ich die 60 mit einem Edding schwärzen und mit Tippex „50“ drüber malen? Das würde auffallen. Also bin ich zum Gravur-Otto in die Hauptstraße, weil es auch um sportgeschichtliche Wahrheit geht. „12 Euro 50“, sagte Gravur-Otto. Da habe ich den Pokal gleich dagelassen.

Das neue Schild auf dem Sockel glänzt fast noch goldener als das alte, was vermutlich an der Inschrift liegt: „Brockenkönig 2015, 1. Platz über 50 Jahre“. Wie wahr!

 

Bike & Fuck

Ich fahre täglich am größten Puff Berlins vorbei. Das Artemis liegt auf meinem Weg zur Arbeit. Zurück am Abend muss ich aufpassen, dass mich die Puffgänger nicht umnieten. Die kommen von der Autobahn und knallen volles Rohr auf den Parkplatz. Und die anderen, die wieder runterfahren, sind zu abgeschlafft, als dass sie nach links und rechts gucken könnten. Ich halte das für keine gute Idee, einen Radweg direkt vor einem Bordell zu verlegen.

Wobei offensichtlich auch Zweiradfahrer das Artemis ansteuern. Kürzlich stand jedenfalls ein Rad davor. Nicht direkt davor, sondern an der Parkplatzmauer. Da war es angelehnt, eines dieser orange-farbenen Leihräder. Da habe ich mich gefragt: wer fährt denn, bitte sehr, mit dem Fahrrad zum Puff? Wird jetzt auch noch das Triebleben ökonomisiert, um das eingesparte Taxigeld an anderer Stelle zu reinvestieren?

Möglicherweise. Manche Männer kommen schließlich auch mit der S-Bahn. Ich sehe die immer vom Westkreuz runter dackeln. Ein AB-Ticket kostet ja nur 2,80. Das Fahrrad bietet wiederum den Vorteil, dass man vorher was für seine Kondition getan hat.

Aber so ganz bordell-tauglich scheint das Zweirad nicht zu sein. Sonst wäre der unbekannte Entleiher doch bis zum Eingang vorgerollt. Vielleicht war es ihm peinlich, so ganz ohne PS abzusatteln, und die Ökos haben noch immer Probleme mit ihrem Standing. Das wäre mal eine Recherche wert.

Gestern stand wieder ein Leihrad da. Diesmal ein schwarzes. Es stand auf der anderen Seite der Puffeinfahrt, gleich unter der Leuchtreklame. Das muss ein Trend sein. Würde mich nicht wundern, wenn die New York Times demnächst über diese neue Spielart des Berlin-Tourismus berichten würde: Bike & Fuck.

 

Durchfahren – durch den Film

Zuerst lächeln sie noch, die jungen Wegversperrer, die mit ihren Walkie-Talkies auf der Straße stehen und mir gleich sagen wollen, dass ich hier nicht durchfahren kann, weil ein Film gedreht wird und ich umdrehen soll. Aber ich will nicht umdrehen. Und anhalten werde ich auch nicht, was die Wegversperrer aber erst begreifen, als es schon zu spät ist. Und dann lächeln sie nicht mehr, sondern rufen aufgeregt in ihr Walkie-Talkie rein und schlagen Alarm bei den Leuten vom zweiten Sicherheitskreis, die also schon Bescheid wissen, wenn ich auf sie zusteuere.

Auf den Überraschungseffekt kann ich da nicht setzen. Deshalb verlangsame ich meine Fahrt und tue so, als hielte ich an. Um in dem Moment, in dem die Wegversperrer denken, die Gefahr sei gebannt, anzutreten und vorbeizuziehen, rechts oder links, egal, wo gerade mehr Platz ist, und dann rase ich mit einem Kampfschrei durch die Szene und bin auch schon wieder raus aus dem Sperrgebiet, denn offensichtlich denken die Walkie-Talkie-Typen am hinteren Ausgang, der irre Rennradfahrer gehört zur Handlung.

Und das sollte er auch. So viele Filme, wie in Berlin gedreht und Straßen gesperrt werden, da müsste die gezielte Durchkreuzung willkürlicher Verbote schon längst zum guten sportlichen Ton gehören und dies ein Merkmal deutscher Hauptstadt-Produktionen sein. Dänische Dogma-Filme sind halbdunkel, und bei Berlin-Movies jagt ein Radfahrer durchs Bild und ruft: „Ihr kriegt mich nicht, ihr Arschlöcher!“. Also, an mir soll’s nicht scheitern.

Was die Sache erschweren könnte, – wenn die Filmgesellschaften die luschigen Studenten durch zweikampferprobte Security-Schränke ersetzen. Da bleibt einem der Siegesruf möglicherweise im drangsalierten Halse stecken. Aber ich sage immer: man muss was wagen für seine Rennradfahrer-Freiheit.

 

Der untröstliche Agegrouper

Ich habe eine Medaille verpasst. 38 Hundertstel fehlten mir zu Bronze. Wissen Sie, wie kurz 38 Hundertstel sind? — So kurz. Aber das ist Sport. Ein Fingerschnippen – und das ganze Jahr ist ruiniert.

Dabei sollte dieses Jahr doch meines werden. Weil ich mich als 50-Jähriger nicht mehr gegen all die 45- und 46-jährigen Jungspunde zur Wehr setzen muss. Mit 50 startet man in einer neuen Altersklasse und kann Jagd auf die lahmen 53- und 54-Jährigen machen. Altersklassen sind eine überaus motivierende Erfindung unserer Freizeitgesellschaft.

Da fährt man dann auch gerne mal quer durch die Republik nach Freiburg. Dort findet der Schauinslandkönig statt. Das ist ein Bergzeitrennen, bei dem sich Radrennfahrer – und solche, die sich dafür halten – den Schauinsland hoch quälen und glauben, an ihnen sei ein Profi verloren gegangen. Der Medaillenrang in der Altersklasse beweist das schließlich. Muss man den nur noch einfahren.

Und hätte ich in der einen Kurve nicht wegen dieses Volltrottels auf die Außenbahn ausweichen müssen, weil der den kürzesten Weg versperrte, – ich wäre das Fingerschnippen schneller gewesen und dieser Lucas Dittmar vom Activity Racing Team würde sich jetzt nicht über Bronze freuen.

Wie ich den Ergebnislisten entnehmen konnte, hatte er das bereits das Jahr zuvor getan, bei seinem Einstand in der Altersklasse M 50. Mit einer Zeit, die langsamer war als meine. Und jetzt das: um mehr als eine Minute hatte dieser Lucas Dittmar seine Zeit verbessert, obwohl er ein Jahr älter geworden war. Der muss wirklich hart trainiert haben.

Wahrscheinlich hat er keine Familie, der er umständlich erklären muss, warum er am Sonntagnachmittag nicht mit in den Britzer Garten kommen kann. Und mit dem Sonntag ist es ja nicht getan. Um konkurrenzfähig zu sein, muss man auch an den anderen sechs Tagen in die Pedale treten. Und da bietet sich der Urlaub als Intensivblock natürlich an, den man folgerichtig in den französischen Alpen verlebt, die man dann konsequenter Weise alleine erkundet, ohne Familie, dafür auf dem Rad.

Und das alles, um am Ende die Medaille zu verpassen – um 38 Hundertstel. Ein Fingerschnippen kann ziemlich lange nachhallen.

 

 

Wildschweinsport

Zuerst dachte ich: Wildschweine. Das müssen Wildschweine sein, die sich durchs Unterholz pflügen. So wie das krachte und schubberte. Wildschweine gibt es ja reichlich im Grunewald. Und ich hatte am Teufelsberg auch schon mal eines gesehen. Aber dann hörte ich es schreien. Angstschreie waren das keine. Das klang eher so, als seien die Wildschweine auf irgendetwas sauer.

Komisch, dachte ich. Erst recht, als ich es durchs Geäst neon-gelb habe schimmern sehen. Sollten die Wildschweine ihre T-Shirts neuerdings bei H&M einkaufen? Eine Frage, der ich nicht weiter nachgehen konnte, denn plötzlich stand die Frau auf dem Weg. Neongelb – und mit einem Autoreifen über der Schulter. Auch die zweite Frau, die aus dem Wald sprang, trug einen schweren, schwarzen Reifen. Die anderen zogen ein Seil hinter sich her, mit dem man ein Kreuzfahrtschiff hätte vertauen können.

Grußlos tappte die weibliche Rotte an mir vorbei. Und auch der mächtige Mann, der die Nachhut bildete, sagte nichts, sondern stieg in ein Auto, in das er zuvor die Reifen und das Schiffsseil verstaut hatte. Auf dem SUV stand: „Nature Athletes“. Natursportler? Am Teufelsberg? Mit Autoreifen?

Genau, sagt Miri. Die Autoreifen werfe man vor sich in den Wald und mit dem Tau ziehe man einen Kollegen übers Laub. Das sei sehr anstrengend. Und darum ginge es: sich bei Wind und Wetter zu verausgaben. Sagt Miri, die bei Nature Athletes für die Public Relations zuständig ist.

Der mächtige Mann nennt sich Jhaki und ist Personaltrainer. Jhaki verspricht, seine Kundinnen zu ausgeglichenen Menschen zu machen und ihnen die Natur nahe zu bringen. Jede Zeit hat halt ihren eigenen Naturbegriff. Und wenn um die halbe Welt geflogene Avocados bio sind, kann man wahrscheinlich auch einen Berliner Schuttberg für urwüchsig und das Wegwerfen von Autoreifen für eine organische Körperertüchtigung halten.

Es hätten aber auch Wildschweine sein können.