Kudos

Ronny ist immer der Erste. Egal, ob ich morgens fahre, am Mittag, oder im Dunkeln auf der Rolle,- Ronny hält den Daumen hoch. „Bling“, sagt dann mein Handy.

Manchmal applaudiert mir Ronny, da habe ich die Radschuhe noch an. Allerdings ziehe ich die Schuhe auch nicht sofort aus. Sondern erst, nachdem ich meine Runde bei Strava hochgeladen habe. Damit Ronny Bescheid weiß – und die anderen. „Bling“.

Vielleicht hat Ronny ja eine App, die Kudos automatisch versendet. Möglicherweise hat er aber auch einen Super-Job, bei dem er immer gucken kann, wo seine Strava-Freunde gerade so rumkurven. Bling. Bling. Bling. Bling.

Manchmal lässt Ronny auf sich warten. Dann mache ich mir Sorgen. Ist er krank? Was bedauerlich wäre. Aber schlimmer fände ich, er würde meine erbrachte Leistung nicht für lobenswert halten. Okay, es waren nur 43 Kilometer. Aber die habe ich zwischen Edeka und der Spätschicht abgerissen. Das war echt stressig. Aber ich kann ja schlecht schreiben: „Schnell noch zwischen Großeinkauf und Schicht reingepresst“? Da könnten die Leute glauben, ich würde um ihre Kudos betteln. Also schreibe ich: „Noch schnell vor der Schicht“. Das ist dezenter.

Natürlich freue ich mich, wenn es auch mal über den bloßen Daumen hinausgeht und die Respektsbekundung etwas ausgeführt wird. Dafür ist die Kommentar-Funktion schließlich da. Es muss ja nicht in Lobhudelei ausarten. Ein einfaches „saustark“ reicht. Wobei, wenn jemand aufgefallen sein sollte, dass ich so früh in der Saison schon verdammt gut in Form bin, kann er das natürlich feststellen.

Oder sie. Silvia, Claudi, Anne, Grit. Ich lass mir gerne von Frauen Komplimente machen. Was soll daran komisch sein? Komischer wäre es, sich von einem Kerl beglückwünschen zu lassen, der sich „Ulle007“ nennt, und auf dessen Daumen sich auch noch etwas einzubilden.

Das verstehe ich eh nicht, warum sich die Leute bei Strava Tarnnamen geben. Die sehen doch eh alle gleich aus, mit ihren Helmen und Sonnenbrillen. Wie mutierte Fliegen aus einem Science-Fiction-Film, der es zu Recht nicht in die Kinos geschafft hat. Bling.

Nicht, dass ich den ganzen Tag auf den Belobigungston warten würde. Das wäre ja absurd. Aber auf den ersten schon. Danke, Ronny.

Sechstagerennen

Bei Karstadt ist wieder Sechstagerennen. Am Freitag kostet der Rollkoffer nur 39,99. Da muss man sich beeilen. Aber darum geht’s ja beim Sechstagerennen.

Schuhe gibt’s auch billiger. Und Hosen. Und Uhren. Und Bettwäsche. Und Seifenspender. Und Waschmaschinen. Und Geschirrspüler. Und Bügeleisen. Und Bratpfannen. Und Salami. Im Prinzip dreht Karstadt sechs Tage lang am Rad. Am Sonntag ist die Halle allerdings zu.

Nun ist das nicht verwunderlich, dass ein Kaufhaus Werbung mit dem Sechstagerennen macht, ist es bei dieser Veranstaltung doch schon immer um Kohle gegangen. Die Fahrer wären auch schon blöd gewesen, für lau in die Pedale zu treten, bei dem ganzen Zigarrenqualm. Mittlerweile ist das Rauchen ja verboten. Und wilde Schlägereien habe ich bei Karstadt auch schon länger keine mehr gesehen.

Man mag das für ein schlechtes Omen halten, dass ein potenzielles Pleite-Unternehmen das Sechstagerennen auf seine Fahnen schreibt. Auf der anderen Seite: Karstadt gibt es noch; die Sixdays in Dortmund, Köln, München und Frankfurt schon lange nicht mehr.

Ernest Hemingway saß gerne beim Sechstagerennen in Paris rum. Und Edward Hopper hat sogar mal ein Bild gemalt. „French Six-day Bicycle Rider“ heißt das aus gutem Grund unbekannte Werk. Der Fahrer, der da in seiner Koje hockt, sieht aus wie ausgestopft. Vermutlich hatte Edward Hopper keine Ahnung von dem Sport. Genauso wenig wie Karstadt.

Wobei das schon etwas Kompetitives haben kann, einen Kaffeevollautomaten für die Hälfte abzugreifen. Aber vermutlich geht es mehr um eine Idee als um den Wettbewerb. Bei Karstadt wie im Velodrom. Wohin sonst kann man sechs Tage lang latschen, ohne als gestörter Wiederholungstäter zu gelten?

Okay, die Venus wäre eine Alternative. Aber die Sex-Messe hat nur vier Tage auf. Kein Vergleich!

Kein schöner Sport

Manche Wahrheiten tun weh. Erst recht, wenn man sie ausspricht: Der Radsport ist kein schöner Sport. Wie man in die Pedale tritt und welche Figur man dabei macht, ist ästhetisch gesehen vollkommen egal. Hauptsache, man fährt schnell.

In anderen Sportarten ist das anders. Da ist Schönheit unerlässlich für den Erfolg. Ein Diskuswerfer wirft den Diskus nur dann weit, wenn er ihn auch schön wirft. Schmeißt er ihn einfach weg, oder versucht er es mit Gewalt, stürzt die Scheibe ab. Dann ruckelt das Ufo in der Luft oder wackelt oder steht Kopf. Auch der Diskus muss anmutig sein, um es weit zu bringen.

Wie der Diskuswerfer, dieses kreiselnde Katapult, das sich in einer gewaltigen Bewegung entlädt, um am Ende, wenn die Scheibe schon auf der Reise ist, den Wurfarm leger ausschwingen zu lassen, so als sei das gar kein Arm, sondern der Flügel eines sehr kräftigen Greifvogels. Auch das gehört zum weiten Wurf: das Luftige, Federige, eben: Schöne.

Und Mario Götze hätte Deutschland ohne Eleganz nicht zum Weltmeister geschossen. Als der Ball im Maracana-Stadion auf ihn zuflog, war Götze zur Grazie verdammt. Einen anderen als einen eleganten Weg gab es nicht, den Ball ins argentinische Tor zu bringen. Denn der Ball kam ein Stück zu hoch angeflogen, weshalb Götze nach oben springen musste, um den Ball dort in der Luft anzunehmen. Aber er nahm ihn nicht nur an, er legte ihn sich mit der Brust gleich vor. Diesen entscheidenden halben Meter nach halbrechts, so dass er in der Zeit, in der der Ball dorthin tropfte, seinen Körper verdrehen und den linken Fuß derart anwinkeln konnte, dass er den Ball, wieder unten angekommen, mit Vollspann treffen konnte. Sein sich verwindender Körper brachte zusätzlich Kraft auf den Fuß, wodurch der Ball unerreichbar wurde für den argentinischen Torwart. Ohne diese komplexe Formvollendung, die keine zwei Sekunden dauerte, wäre Deutschland nicht Weltmeister geworden.

Und im Radsport gewinnt Christopher Froome viermal die Tour de France. Ein Mann, der wie ein Reiher auf dem Rad sitzt. Wie ein großer, bleicher Reiher. Froome kann sich das Ungelenke, wie falsch Verschraubte leisten, denn würde er elegant und weniger hässlich auf dem Rad sitzen, wäre er nicht schneller. Schönheit und Grazie sind im Radsport keine Parameter, sondern überflüssig. Deshalb zieht Daniel Martin seinen Kopf auch immer so komisch hoch zwischen die gereckten Schultern, als sei er eine Schildkröte ohne Panzer. Weil es egal ist.

Ja, es gibt auch die stilvollen Fahrer. Die über den Rahmen gespannt sind, als sei dies ihre Bestimmung: in einem Gleichmaß dahin zu kurbeln, dass man glauben könnte, es strenge sie gar nicht an. Das ist schön anzuschauen. Aber fährt einer den Berg hässlich schneller hoch, als es der Stilist elegant tut, ist der Stilist seinen Platz im Team los.

Im Radsport gibt es keine B-Note. Es gibt nur die Bio-Physik. Laktatwert, getretene Watt pro Kilogramm, maximale Sauerstoffaufnahme. Der Radsport ist eine simple Rechnung – und ein simpler Sport.

Primoz Roglic begann seine Radsport-Karriere mit 21. Vorher war er Skispringer. Wahrscheinlich fragt sich der Mann jeden Tag aufs Neue, warum er mit so viel weniger Körperbeherrschung so viel mehr Geld verdient. Man stelle sich das andersrum vor: ein 21-Jähriger beginnt mit dem Skispringen. Oder mit dem Fußball. Oder dem Diskuswerfen, dem Schwimmen, dem Skifahren, dem Turnen, dem Fechten. Oder, oder, oder. Er würde immer ein Anfänger bleiben. Primoz Roglic hat am Sonntag die Spanienrundfahrt gewonnen.

Womit wir bei der Gretchenfrage wären: Wie gehen wir mit dieser unschönen Wahrheit um, dass wir eine Sportart mögen und betreiben, die man nicht erlernen muss, für die man weder ein besonderes Körpergefühl benötigt noch das geringste Verständnis von Ästhetik? – Nun, vielleicht sollten wir das alles besser für uns behalten.

ABREISSEN! LASSEN!! MÜSSEN!!!

Ich bin noch nie geklettert. Aber ich weiß trotzdem, wie sich Bergsteiger fühlen, kurz bevor sie in den Tod stürzen. Auf dem Rad erlebt man das viele Male: die Schwerkraft, die eigene Kraft, die schwindet, die Ohnmacht. Wenn alles festkrallen und hoffen und beten nichts hilft. Und sich der Griff um die Steinkante löst. Fast ein wenig verwundert schaut der Todgeweihte auf seine Hand. Warum will sie ihn nicht mehr halten? Er hat der Hand doch nichts getan.

Wie der Radfahrer seinem Bein. Dem hat er auch nichts getan. Das Bein ist die Hand des Radfahrers. Es hält ihn am Leben. Aber bald nicht mehr. Denn es brennt wie ein Busch. Und das andere Bein wie zwei. Gleich bekommt er einen Krampf. Und selbst wenn nicht, wird er das Tempo nicht mehr mitgehen können. Trotz Windschatten! Wie peinlich.

Gibt es beim Bergsteigen eigentlich auch Windschatten? Ein wirrer Gedanke kurz vor der Selbsttaufgabe. Und dann ist es vorbei. Er fällt zurück. Er hat abreißen lassen müssen. Er ist ein geschlagener Mann. Und so stürzt er in die Tiefe. Wie ein Bergsteiger.

Dass der Rennradfahrer danach weiterlebt, macht die Sache nur komplizierter. Denn so kann er sich einreden, gar kein geschlagener Mann zu sein. Sind ja nur zehn Meter, die er hinter den anderen herfährt. Und als es 20 sind, irrglaubt der Gestürzte noch immer, den Rückstand wieder aufholen zu können. Es ist ein jämmerlicher Kampf gegen das Geschlagensein. Aber irgendwann ist auch der vorbei.

Der Fatalist fährt dann einfach weiter. So als sei nichts geschehen. Das ist sein Schutzmechanismus: auf Maschine machen. Hauptsache, er rattert noch irgendwie. Die Gruppe sieht er jetzt selbst auf der langen Gerade nicht mehr. Dem Fatalisten ist es egal. Er hat seine Ehre und seine Scham rausgetreten. Als er dranbleiben wollte – und es nicht schaffte. Jetzt ist er nur noch eine willenlose Rennradfahrer-Puppe, die ungläubig runter auf die Beine schaut. Warum gehen die immer auf und ab? Die Puppe weiß es nicht.

Blöder Fatalist, denkt der Schönredner, der die Niederlage nicht hinnimmt. Wahrscheinlich deshalb nicht, weil er ein gestörtes Verhältnis zum Schicksal hat. Hätte er ein besseres, wüsste der Schönredner, dass es Vorbestimmung ist, den Anderen hinterher zu gucken und zu fahren. Würde es in seiner Macht liegen, träte er schließlich mit den Jungs da vorne noch um die Wette. Aber er kann nicht schneller fahren. Das ist Bio-Physik. Eigentlich ganz einfach zu kapieren. Aber der Schönredner will Gesetzmäßigkeiten nicht wahrhaben.

Es muss an der Erkältung liegen, die er wohl nicht richtig auskuriert hat. Oder an dem scheiß harten Bett in dem total beschissenen Hotel. Und hätte er nur richtig trainieren können und nicht die zwei Tage aussetzen müssen, na, aber dann. Redet sich der Schönredner seine abgerissene Lage schön. Und im Ziel rollt er gleich durch zu denen, die ihm weggefahren sind und erklärt ihnen ungefragt, woran es gelegen hat und dass sie ihn beim nächsten Mal nicht abhängen. Garantiert nicht.

Der Selbstzweifler will keine Revanche. Der Selbstzweifler will aufhören. Am besten gleich mit diesem ganzen Radsport. Das wollte er schon so manches Mal. Aber diesmal ganz bestimmt. Was für ein Blödsinn! Als erwachsener Mann und Familienvater so zu tun, als sei er ein Profi. Oder hätte doch zumindest einer werden können. Wenn sein Talent nur früher erkannt worden wäre. Aber es ist keiner vorbeigekommen. Kein Trainer, kein Entdecker, kein Manager. Hat er sich das alles tatsächlich jahrelang eingeredet? Damit muss Schluss sein.

Wie ein geprügelter, zweibeiniger Köter rollt der Selbstzweifler ins Ziel. Am liebsten würde er sein Rad jetzt demonstrativ hinschmeißen. Damit auch alle sehen, dass er es ernst meint. Dass es vorbei ist. Aber sein Rad hat dreieinhalbtausend Tausend Euro gekostet. Und nachher bricht noch das Schaltwerk ab. Also schmeißt er das Rad nicht hin.

Vielleicht bekommt er noch anderthalb Tausend dafür. Aber dann hätte er 2.000 Euro Verlust gemacht. Das ist eindeutig ein Minusgeschäft. Da kann er eigentlich auch weiterfahren. Denkt der Selbstzweifler, der jetzt schon nicht mehr ganz so verzweifelt ist. Schließlich waren die in der Gruppe alle jünger als er, ist er sich sicher. Und verrechnet man das Alter mit der getretenen Wattleistung sind die anderen ihm gar nicht weggefahren. Sondern er ihnen.

Und so muss auch der Selbstzweifler keine Todesanzeige aufgeben. „Er musste abreißen lassen“, das ist eigentlich eine schöne Grabinschrift. Auch für Menschen, die noch nie auf einem Rad saßen.

Der Stuhl

Ich fahre an Sehenswürdigkeiten konsequent vorbei. Vielleicht gucke ich mal rüber zum Schloss, zur Kirche, zur Burg, zum Meer, zu diesem schönen, alten Fachwerkhaus, aber dann gucke ich wieder geradeaus, auf die Straße. Schließlich heißt es Rennradfahren und nicht Rennradanhalten. Deshalb habe ich für mich entschieden, Sehenswürdigkeiten nur noch als solche zu betrachten, die ich auch im Wiegetritt wahrnehmen kann.

Womit ich bei der Birke wäre, an der ich hunderte Male achtlos vorbeigetreten war. Bis sie eines Tages nicht mehr da stand, am Rand des Kronprinzessinnenweges, der Straße also, auf der die allermeisten meiner Trainingsrunden beginnen und auch enden.

Nun kommt das häufiger vor, dass Bäume gefällt werden. Und die Lücke, die die fehlende Birke riss, war nicht sehr groß. Weshalb ich anfangs auch an dem Stumpf achtlos vorbeifuhr. Aber irgendetwas war besonders an diesem Birkenrest. Das konnte ich auch aus der Bewegung heraus erkennen.

Der Stumpf war höher, als es Stümpfe normalerweise sind. Vor allem aber war er nicht gerade abgeschnitten. Wie eine Stufe stand er da am Rand. Oder eher noch wie ein Stuhl. Da war die breite Sitzfläche und im rechten Winkel ging am Ende die Lehne hoch. Birke massiv.

Hatte der Baumfäller eine Sitzgelegenheit gesucht und die Parkbank, die keine hundert Meter entfernt steht, übersehen? Womöglich. Dass ein Rennradfahrerkollege das Outdoor-Möbel modelliert hat, schließe ich aus. Eine Motorsäge passt nicht in die Trikotasche.

Vielleicht wollte der Unbekannte uns Rennradfahrer auch dazu bringen, endlich mal anzuhalten, statt immer an der Welt vorbei zu hasten. Wenn dies das Ziel gewesen sein sollte, hat er es erreicht. Je häufiger ich den Stumpfstuhl passierte, desto mehr wollte ich wissen, wie es sich darauf sitzt. Ganz gut. Die steile Lehne drückt auch gar nicht im Kreuz.

Ich bin dann aber gleich wieder aufgestanden, weil ich nicht wollte, dass mich jemand so dasitzen sieht. Wie ein Rad-Tourist. Oder schlimmer noch: wie einer, der nicht mehr kann.

Der Stuhl wird mittlerweile auch von anderen genutzt. Jemand hat eine „12“ auf die Lehne gesprüht. Warum auch immer. Und auf dem Asphalt davor ist ein rosa Herz gemalt, mit den Initialen „T“ und „G“. Vielleicht steht das „T“ für Tillmann, und Gina hat das „G“ beigesteuert. Ober aber Günther und Theo hatten auf ihre alten Tage nochmal ein aufregendes Birkenstumpfstuhl-Rendezvous. Wer weiß das schon?

Vermutlich werde ich die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung des hölzernen Liebesplatzes nie abschließend klären. Aber das ist okay. Man kann nicht alle Menschheitsrätsel lösen. Das habe ich begriffen. Und für eine solche Erkenntnis halte ich auch mal an. Dieses eine Mal zumindest.

 

Die Krone Berlins

Auf einem Asphaltstreifen neben der Autobahn hält sich die Hauptstadt fit. Rennradfahrer, Inlineskater, Läufer, Handbiker machen aus dem Kronprinzessinnenweg die vermutlich sportlichste Straße Deutschlands. Und auch Jens Voigt ist ein Fan der „Krone“.

Quäl dich nach Rom – ein Selbstversuch mit 90 Anderen

Warum fährt man mit dem Rad nach Rom, wenn man auch den Flieger nehmen kann? Wahrscheinlich, weil es Spaß macht. Sonst hätten sich nicht Anfang Juni 2019 fast 90 Rennradfahrer – und Fahrerinnen – auf den Weg in die Heilige Stadt gemacht. Von Garmisch-Partenkirchen aus, über die Alpen, durch die Dolomiten, längs des Apennin, nach dem Motto: Quäl dich und lass keinen Berg aus. – Über hoch gesteckte Ziele, wund gescheuerte Hintern, gebrochene Rahmen und geprellte Schultern. Und am Ende feiert Rupert seinen ganz persönlichen Sieg – mit Zigarre und roten Papst-Slippern.

 

 

Der Windschatten spendende Motorradpolizist

Plötzlich war da dieser Motorradpolizist. Von hinten war er heran geknattert, und ich dachte schon: jetzt bin ich dran. Weil ich doch unerlaubter Weise die Velothon-Strecke befuhr, auf der gleich die Profis lang schießen würden.

Eigentlich wollte ich nur eine kleine Trainingsrunde im Brandenburgischen drehen. Aber wohin ich auch steuerte, überall standen Ordner mit gelben Warnwesten rum und versperrten mir den Weg. Beim dritten Mal bin ich einfach weitergefahren. Und dann kam auch schon der Polizist.

Offensichtlich hatte er übersehen, dass ich keine Startnummer trug. Vielleicht war ihm das auch egal und er wollte später auf der Wache etwas zu erzählen haben. Jedenfalls fragte er mich, ob er mir Windschatten spenden solle. Ich weiß nicht warum ich genickt habe, ich habe es jedenfalls getan. Und so setzte der Mann seine Maschine vor meine und wir bügelten durch Neubeeren und weiter nach Sputendorf, wo die Leute offensichtlich annahmen, ich sei der Spitzenreiter. Jedenfalls waren sie ganz aus dem Häuschen und feuerten mich an.

Dem Polizisten schien der Applaus auch gut zu tun. Er grüßte die Leute mit erhobenem linkem Arm, so wie es die römischen Herrscher in den Gladiatoren-Filmen tun. Ich muss sagen, das ist schon etwas Besonderes, sich wie ein Erster zu fühlen und dabei unter dem Schutz der Ordnungsmacht zu stehen.

Aber wahrscheinlich tauge ich nicht zu einem Hauptmann vom Köpenick oder auch nur zu dem von Sputendorf. Mich beschlich die Sorge, doch noch als Falschfahrer aufzufliegen, und ich signalisierte meinem Vorfahrer, lieber alleine weiter pedalieren zu wollen.

Als der Motorradpolizist weg war, bog ich schnell nach links ab, runter von der Velothon-Strecke. Und so werde ich nie erfahren, ob wir unseren Vorsprung ins Ziel gerettet hätten – und wie die Geschichte des Polizisten endet, die er auf der Wache erzählen würde.

Der Brockenkönig

Ein bisschen mehr Hochachtung, bitte sehr. Schließlich bin ich der Brockenkönig. Das hört sich nicht nur kolossal an, das ist es auch: Brockenkönig 2015, so massiv wie royal, ein Titel für die Ewigkeit.

Okay, wir waren nur zu siebt. Aber es ist nicht meine Schuld, dass sich die Anderen von dem Dauerregen und den fünf Grad Celsius haben abschrecken lassen und meine Altersklasse nach oben offen war, weshalb auch drei Rentner in Schierke am Start standen. Erster ist Erster.

Wenn man den Pokal in ein bestimmtes Licht hält, könnte man meinen, er sei aus Silber und nicht aus Dosenblech. Das kleine Schild auf dem Steinfuß glänzt dagegen golden: „1. Platz über 60 Jahre“, entzifferte ich auf dem Nachhauseweg. Wie, über 60? Ja, da sei ihnen wohl ein kleiner Fehler unterlaufen, entschuldigte sich der Veranstalter tags drauf am Telefon.

Da saß ich da mit meinem Siegerpokal, den einzigen, den ich jemals erhalten hatte, den ich aber niemandem vorzeigen konnte, weil ich mich nicht als Ü-60-Jähriger ausgeben wollte, der ich, Gott sei Dank, noch nicht bin.

Sollte ich die 60 mit einem Edding schwärzen und mit Tippex „50“ drüber malen? Das würde auffallen. Also bin ich zum Gravur-Otto in die Hauptstraße, weil es auch um sportgeschichtliche Wahrheit geht. „12 Euro 50“, sagte Gravur-Otto. Da habe ich den Pokal gleich dagelassen.

Das neue Schild auf dem Sockel glänzt fast noch goldener als das alte, was vermutlich an der Inschrift liegt: „Brockenkönig 2015, 1. Platz über 50 Jahre“. Wie wahr!

 

Bike & Fuck

Ich fahre täglich am größten Puff Berlins vorbei. Das Artemis liegt auf meinem Weg zur Arbeit. Zurück am Abend muss ich aufpassen, dass mich die Puffgänger nicht umnieten. Die kommen von der Autobahn und knallen volles Rohr auf den Parkplatz. Und die anderen, die wieder runterfahren, sind zu abgeschlafft, als dass sie nach links und rechts gucken könnten. Ich halte das für keine gute Idee, einen Radweg direkt vor einem Bordell zu verlegen.

Wobei offensichtlich auch Zweiradfahrer das Artemis ansteuern. Kürzlich stand jedenfalls ein Rad davor. Nicht direkt davor, sondern an der Parkplatzmauer. Da war es angelehnt, eines dieser orange-farbenen Leihräder. Da habe ich mich gefragt: wer fährt denn, bitte sehr, mit dem Fahrrad zum Puff? Wird jetzt auch noch das Triebleben ökonomisiert, um das eingesparte Taxigeld an anderer Stelle zu reinvestieren?

Möglicherweise. Manche Männer kommen schließlich auch mit der S-Bahn. Ich sehe die immer vom Westkreuz runter dackeln. Ein AB-Ticket kostet ja nur 2,80. Das Fahrrad bietet wiederum den Vorteil, dass man vorher was für seine Kondition getan hat.

Aber so ganz bordell-tauglich scheint das Zweirad nicht zu sein. Sonst wäre der unbekannte Entleiher doch bis zum Eingang vorgerollt. Vielleicht war es ihm peinlich, so ganz ohne PS abzusatteln, und die Ökos haben noch immer Probleme mit ihrem Standing. Das wäre mal eine Recherche wert.

Gestern stand wieder ein Leihrad da. Diesmal ein schwarzes. Es stand auf der anderen Seite der Puffeinfahrt, gleich unter der Leuchtreklame. Das muss ein Trend sein. Würde mich nicht wundern, wenn die New York Times demnächst über diese neue Spielart des Berlin-Tourismus berichten würde: Bike & Fuck.

 

Durchfahren – durch den Film

Zuerst lächeln sie noch, die jungen Wegversperrer, die mit ihren Walkie-Talkies auf der Straße stehen und mir gleich sagen wollen, dass ich hier nicht durchfahren kann, weil ein Film gedreht wird und ich umdrehen soll. Aber ich will nicht umdrehen. Und anhalten werde ich auch nicht, was die Wegversperrer aber erst begreifen, als es schon zu spät ist. Und dann lächeln sie nicht mehr, sondern rufen aufgeregt in ihr Walkie-Talkie rein und schlagen Alarm bei den Leuten vom zweiten Sicherheitskreis, die also schon Bescheid wissen, wenn ich auf sie zusteuere.

Auf den Überraschungseffekt kann ich da nicht setzen. Deshalb verlangsame ich meine Fahrt und tue so, als hielte ich an. Um in dem Moment, in dem die Wegversperrer denken, die Gefahr sei gebannt, anzutreten und vorbeizuziehen, rechts oder links, egal, wo gerade mehr Platz ist, und dann rase ich mit einem Kampfschrei durch die Szene und bin auch schon wieder raus aus dem Sperrgebiet, denn offensichtlich denken die Walkie-Talkie-Typen am hinteren Ausgang, der irre Rennradfahrer gehört zur Handlung.

Und das sollte er auch. So viele Filme, wie in Berlin gedreht und Straßen gesperrt werden, da müsste die gezielte Durchkreuzung willkürlicher Verbote schon längst zum guten sportlichen Ton gehören und dies ein Merkmal deutscher Hauptstadt-Produktionen sein. Dänische Dogma-Filme sind halbdunkel, und bei Berlin-Movies jagt ein Radfahrer durchs Bild und ruft: „Ihr kriegt mich nicht, ihr Arschlöcher!“. Also, an mir soll’s nicht scheitern.

Was die Sache erschweren könnte, – wenn die Filmgesellschaften die luschigen Studenten durch zweikampferprobte Security-Schränke ersetzen. Da bleibt einem der Siegesruf möglicherweise im drangsalierten Halse stecken. Aber ich sage immer: man muss was wagen für seine Rennradfahrer-Freiheit.

 

Der untröstliche Agegrouper

Ich habe eine Medaille verpasst. 38 Hundertstel fehlten mir zu Bronze. Wissen Sie, wie kurz 38 Hundertstel sind? — So kurz. Aber das ist Sport. Ein Fingerschnippen – und das ganze Jahr ist ruiniert.

Dabei sollte dieses Jahr doch meines werden. Weil ich mich als 50-Jähriger nicht mehr gegen all die 45- und 46-jährigen Jungspunde zur Wehr setzen muss. Mit 50 startet man in einer neuen Altersklasse und kann Jagd auf die lahmen 53- und 54-Jährigen machen. Altersklassen sind eine überaus motivierende Erfindung unserer Freizeitgesellschaft.

Da fährt man dann auch gerne mal quer durch die Republik nach Freiburg. Dort findet der Schauinslandkönig statt. Das ist ein Bergzeitrennen, bei dem sich Radrennfahrer – und solche, die sich dafür halten – den Schauinsland hoch quälen und glauben, an ihnen sei ein Profi verloren gegangen. Der Medaillenrang in der Altersklasse beweist das schließlich. Muss man den nur noch einfahren.

Und hätte ich in der einen Kurve nicht wegen dieses Volltrottels auf die Außenbahn ausweichen müssen, weil der den kürzesten Weg versperrte, – ich wäre das Fingerschnippen schneller gewesen und dieser Lucas Dittmar vom Activity Racing Team würde sich jetzt nicht über Bronze freuen.

Wie ich den Ergebnislisten entnehmen konnte, hatte er das bereits das Jahr zuvor getan, bei seinem Einstand in der Altersklasse M 50. Mit einer Zeit, die langsamer war als meine. Und jetzt das: um mehr als eine Minute hatte dieser Lucas Dittmar seine Zeit verbessert, obwohl er ein Jahr älter geworden war. Der muss wirklich hart trainiert haben.

Wahrscheinlich hat er keine Familie, der er umständlich erklären muss, warum er am Sonntagnachmittag nicht mit in den Britzer Garten kommen kann. Und mit dem Sonntag ist es ja nicht getan. Um konkurrenzfähig zu sein, muss man auch an den anderen sechs Tagen in die Pedale treten. Und da bietet sich der Urlaub als Intensivblock natürlich an, den man folgerichtig in den französischen Alpen verlebt, die man dann konsequenter Weise alleine erkundet, ohne Familie, dafür auf dem Rad.

Und das alles, um am Ende die Medaille zu verpassen – um 38 Hundertstel. Ein Fingerschnippen kann ziemlich lange nachhallen.